„Bundesweit gehen Millionen Dosen verloren“: Impfzentren-Leiter erhebt schwere Vorwürfe gegen Jens Spahn
Die Bundesregierung habe es bis heute nicht geschafft, nötige Ausrüstung zu ordern, sagt der Impfarzt Jörn Jepsen. So würden viele wertvolle Impf-Dosen vernichtet.
Der ärztliche Leiter zweier Impfzentren in Niedersachsen hat Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) und die Impfpolitik des Bundes scharf kritisiert. Neben Impfstoffen fehle es den Zentren an Ausrüstung, sagte Jörn Jepsen, der die Einrichtungen in Winsen und Buchholz koordiniert, dem „Spiegel“.
„Der nächste Skandal ist doch die Tatsache, dass wir immer noch nicht genügend Spezialspritzen mit feineren Kanülen zur Verfügung haben“, sagt Jepsen. Damit könnten problemlos aus jeder Ampulle Biontech/Pfizer-Impfstoff sieben statt sechs Impfdosen aufgezogen werden.
„Warum schafft es das Bundesgesundheitsministerium nicht, dieses einfache Werkzeug zur Verfügung zu stellen?“, fragte der Mediziner. „So gehen bundesweit Millionen Impfdosen verloren, weil die Reste weggeschüttet werden.“ Er habe händeringend versucht, diese Spezialspritzen für den Landkreis zu organisieren. „Vergeblich. Sie sind ausverkauft.“
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Zudem äußerte Jepsen Zweifel, dass der Zeitplan der Bundesregierung für ein Impfangebot für alle eingehalten werden kann. Mit seinen Ankündigungen erwecke Spahn den Eindruck, es laufe alles hervorragend, sagte Jepsen. „Mal verkündet er, dass Schüler geimpft werden sollen, dann, dass die Priorisierung wegfällt. Die Botschaft: Ich habe alles unter Kontrolle. Jetzt müssen nur noch die Impfzentren und Hausärzte hinterherkommen. Aber so ist es leider nicht.“
Weil nicht genügend Impfstoff geliefert werde, habe er das Impfzentrum in Buchholz in der Nordheide am Mittwoch und am Freitag schließen müssen. „An manchen Tagen impfen wir nur zwei bis drei Stunden lang. Dann ist Schluss“, sagte Jepsen. Bis Mitte Juni könne er im Landkreis Harburg nur noch Zweitimpfungen durchführen. 25.000 Menschen aus der Priorisierungsgruppe drei würden noch auf eine Erstimpfung warten.
Impfarzt verärgert über Spahn
In anderen Landkreisen und Bundesländern sei die Situation ähnlich, so Jepsen. „Selbst wenn wir dann jeden Tag 1000 Erstimpfungen verabreichen könnten – was wegen des Impfstoffmangels derzeit nicht geht – würde es bis Mitte Juli dauern, bis wir mit dieser Gruppe durch sind.“ Ab Montag würden weitere Menschen versuchen, einen Termin zu bekommen. „Dann stehen womöglich 50.000 Leute zusätzlich auf der Warteliste – und wir können nicht einen einzigen Impfberechtigten zusätzlich impfen.“
Jepsen sagte weiter, es sei in der Tat viel geschafft worden und glücklicherweise sänken die Inzidenzen. „Aber im Moment stockt die Impfkampagne. Und ehrlich gesagt: Dass wir es in fünf Monaten nicht geschafft haben, mehr als 16 Prozent der Bevölkerung komplett durchzuimpfen, ist keine Meisterleistung. Bei dem Aufwand!“
Der Landkreis Harburg habe in Winsen und in Buchholz eine kostspielige Infrastruktur aufgebaut, eine Stadthalle und eine Schützenhalle angemietet, bis zu 300 Mitarbeiter und 70 Ärzte verpflichtet. „Wir könnten an sieben Tagen die Woche 18 Stunden lang durchimpfen. Es gab aber keinen einzigen Tag, an dem es möglich gewesen wäre, das System wirklich hochzufahren.“
Impfangebot für alle erst Ende des Jahres?
Dass bald auch die Betriebsärzte mitimpfen sollen, werde den Prozess nicht beschleunigen. „Das ist so, als wollte man einen Kuchen in immer kleinere Stücke aufteilen. Der Kuchen wird dadurch ja nicht größer. Die Menge der gelieferten Impfdosen bestimmt, wie schnell wir die erwünschte Herdenimmunität haben.“ Wer den Nadelstich am Ende setze, sei im Prinzip unerheblich. „Da wünsche ich mir von der Politik mehr Ehrlichkeit“, sagte Jepsen.
Auf die Frage, bis wann er mit einem Impfangebot für alle rechne, sagte der Arzt: „Wenn es so weitergeht, dann sind wir bis Ende des Jahres durch. Dann hat jeder bis dahin ein echtes Impfangebot erhalten.
Zu Beginn der Impfkampagne hatte Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) angekündigt, ein Impfangebot für alle bis Ende des Sommers, also dem 21. September, zu machen. Am 5. Mai sagte Kanzleramtschef Helge Braun (CDU) dann im Bundestag, die Regierung gehe davon aus, dass bereits im Juli alle Erwachsenen in Deutschland ein Impfangebot erhalten haben werden. Es sei nun klar, „dass wir in den nächsten zwei Monaten sehr viel Impfstoff haben werden, um diese Impfkampagne abzuschließen“, sagte der CDU-Politiker.
Dem RKI-Impfmonotoring zufolge haben bis einschließlich Dienstag 35.936.861 Menschen in Deutschland ihre Erstimpfung erhalten. Das sind 43,1 Prozent. 15.604.092 Bürgerinnen und Bürger sind vollständig geimpft, das entspricht 18,8 Prozent.
Impfpriorisierung wird ab Montag aufgehoben
Die bislang in der Pandemie vorgeschriebene Impfreihenfolge wird ab Montag aufgehoben. Spahn kündigte am Mittwoch nach einer Sitzung des Kabinetts in Berlin an, die Verordnung dazu im Laufe des Tages zu unterzeichnen. Damit gebe es ab dem 7. Juni keine Priorisierung mehr beim Impfen gegen Covid-19.
Die Reihenfolge war wegen der Impfstoffknappheit eingeführt worden und sollte sicherstellen, dass die besonders gefährdeten Gruppen zuerst geimpft werden. Spahn sagte, dass ab Montag auch erstmals die Betriebsärzte mit über 700.000 Dosen des Impfstoffs von Biontech/Pfizer in der ersten Woche regelhaft in die Impfkampagne eingebunden würden.
Spahn hatte am Morgen im ZDF Fehler indirekt Fehler im Umgang mit der Pandemie zugegeben. Er bereite sich im Gegensatz zum Vorjahr bereits jetzt auf eine mögliche weitere Welle mit rasant steigenden Infektionszahlen vor. In diesem Jahr wolle er schon früher Risiken besprechen und Strategien zur Vermeidung einer vierten Welle durchgehen. „Die Gespräche habe ich schon mit Experten und dem Robert Koch-Institut begonnen“, sagte Spahn.
Spahn will sich früher auf mögliche neue Welle vorbereiten
Die Sensibilität dafür habe auch damit zu tun, dass sich die Lage im vergangenen Jahr nach einem Sommer mit niedrigen Inzidenzen im September und Oktober schlagartig verschlechtert habe. Insgesamt zeigte sich Spahn zufrieden mit der derzeitigen Situation: „Die Stimmung ist gerade zurecht gut, die Inzidenzen sind niedrig, die Impfzahlen sind hoch, aber wir sehen in Ländern wie dem Vereinigten Königreich: Es kann auch schnell wieder schief gehen.“
Die Sieben-Tage-Inzidenz ist dem RKI zufolge den zweiten Tag in Folge gestiegen. Der Wert lag Angaben von Mittwochmorgen zufolge bei 36,8 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner und Woche (Vortag: 35,2; Vorwoche: 46,8). Mit einem erneuten exponentiellen Wachstum der Fallzahlen werde bei vorsichtigen Öffnungen zunächst nicht gerechnet, sagte RKI-Chef Lothar Wieler. Zu der Entwicklung der Inzidenzen hatte er bereits Dienstag gesagt, Modellierungen ließen einen leichten vorübergehenden Anstieg erwarten. Das RKI bringe dies mit Öffnungsschritten in Zusammenhang, die die Chancen des Virus erhöhten.
Binnen eines Tages meldete das RKI 4917 Neuinfektionen. Vor einer Woche hatte der Wert kurz nach dem verlängerten Pfingst-Wochenende bei 2626 Ansteckungen gelegen. Deutschlandweit wurden den Angaben nach binnen 24 Stunden 179 neue Todesfälle verzeichnet. Vor einer Woche waren es 270 Tote gewesen.
Der bundesweite Sieben-Tage-R-Wert lag dem RKI-Lagebericht von Dienstagabend zufolge bei 0,77 (Vortag: 0,76). Das bedeutet, dass 100 Infizierte rechnerisch 77 weitere Menschen anstecken. Der R-Wert bildet jeweils das Infektionsgeschehen vor acht bis 16 Tagen ab. Liegt er für längere Zeit unter 1, flaut das Infektionsgeschehen ab; liegt er anhaltend darüber, steigen die Fallzahlen.