„Herdenimmunität wäre erst in 25 Jahren erreicht“: Helmholtz-Forscher erklärt an einer Zahl, warum strenge Corona-Regeln bleiben müssen
Der Infektionsforscher Michael Meyer-Hermann erklärt, warum es für Lockerungen eigentlich noch zu früh ist. Und warum es so wichtig ist, das Virus „auszutrocknen“.
Am Ostermontag hat eine Gruppe von Forschern der Helmholtz-Gemeinschaft Empfehlungen für den weiteren Umgang mit der Corona-Krise veröffentlicht. Die Forscher weichen dabei in zentralen Punkten von den Empfehlungen der Leopoldina ab.
Die zentrale Aussage der Helmholtz-Wissenschaftler: Die Kontaktbeschränkungen werden zunächst weitergeführt und durch flankierende Maßnahmen begleitet, so dass die sogenannte Reproduktionszahl dauerhaft und deutlich unter 1 sinkt. Ein Infizierter würde demnach statistisch weniger als einen weiteren Menschen anstecken.
Diese Maßnahmen müssten einige weitere Wochen dauern und durch eine deutlich ausgeweitete Test-Strategie ergänzt werden. Im Interview erklärt der Immunologe Michael Meyer-Hermann vom Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung in Braunschweig, welche Berechnungen der Empfehlung zu Grunde liegt.
Herr Meyer-Hermann, die aktuellen Corona-Maßnahmen jetzt aufzuweichen, werten die Helmholtz-Experten als hohes Risiko. Eine der Kernaussagen in Ihrem Papier ist, dass die zeitabhängige Reproduktionszahl auf keinen Fall erneut deutlich über den jetzt erreichten Wert 1 steigen darf. Warum?
Wenn die Reproduktionszahl über 1 steigt, dann wird jeder Infizierte mehr als eine andere Person anstecken. Das Virus würde sich wieder exponentiell ausbreiten. Die Berechnungen zeigen, dass dies zu einer Überlastung des Gesundheitssystems führen würde und die Patienten nicht optimal oder überhaupt nicht versorgt werden könnten. Das gilt es auf jeden Fall zu verhindern.
In Ihrem Papier argumentieren Sie auch, dass eine Zahl um 1 problematisch wäre. Warum?
Wenn wir das Virus nicht austrocknen, kann es nur durch Herdenimmunität oder einen Impfstoff beseitigt werden. Den Impfstoff haben wir hoffentlich nächstes Jahr. Die Herdenimmunität wird man unter Einhaltung der Kapazitäten des Gesundheitssystems erst in vielen Jahren erreichen. Eine einfache Rechnung dazu: Gestern gab es 2.500 neue Fälle, das sind eine Million im Jahr, mit Dunkelziffer vielleicht zwei Millionen. Herdenimmunität ist bei 50 Millionen Infizierten erreicht. Also grob in 25 Jahren.
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Die Helmholtz-Gemeinschaft empfiehlt als Ziel eine dauerhafte Reproduktionszahl von deutlich unter 1. Als „optimistische Schätzung“ geben Sie einen Zeitraum „von einigen Wochen“ an. Erst dann sollten Einschränkungen schrittweise aufgehoben werden.
Zunächst muss man die Zahl der Neuinfektionen und die Reproduktionszahl täglich neu bewerten, um die Schritte zum Ausstieg sicher machen zu können. Jeder Beitrag zur Reduktion der Neuinfektionen ist hilfreich. Das Tragen der Masken zum Beispiel. Aber auch einfach das verantwortungsvolle Handeln jedes Einzelnen.
In der gewonnenen Zeit sollten wir Tests und Kontakt-Tracing so optimiert haben, dass wir dann die verbleibenden Neuinfektionen unter Kontrolle haben und durch konsequente Isolation ein erneutes Aufflammen der Epidemie verhindern.
Neben Ihrem Papier hat auch die Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina ihre Empfehlungen zu Ausstiegsszenarien vorgelegt. Die Leopoldina plädiert beispielsweise für eine zügige Öffnung der Grundschulen und Sekundarstufe I. Wäre das zu früh und ein Fehler aus Ihrer Sicht?
Zu einzelnen Maßnahmen kann ich mich nicht äußern, da das unser Modell nicht auflöst. Das Leopoldina-Papier ist eine perfekte Ergänzung zu unserem Papier. Darin wird die schrittweise Lockerung der Maßnahmen aus einer gesellschaftlichen Sicht beschrieben.
Wir haben die Perspektive der mathematischen Modellierung aus einer rein infektions-dynamischen Sicht hinzugefügt, um die zeitliche Planung des Ausstiegs zu unterstützen. Das ist der Wert der Modellierung: Wir können eine täglich neue Bewertung der Situation vornehmen und entsprechende Empfehlungen aussprechen. Zusammen sind die beiden Papiere eine gute Grundlage für eine sichere, kontrollierte und möglichst schnelle Rückkehr zur Normalität.
Wie können epidemiologische Erkenntnisse und Prognosen mit gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Folgeabschätzungen in Einklang gebracht werden?
Ich sehe da keinen Widerspruch, den Sie in der Frage suggerieren. Es ist auch im Sinne der Wirtschaft und der Gesellschaft, so schnell wie möglich zur Normalität zurückzukehren. Eine dauerhafte Handbremse wäre für Wirtschaft und Gesellschaft nicht wünschenswert. Wir müssen das Problem gemeinsam lösen.
Ich sehe die Stärke unserer Gesellschaft darin, wie wir es mit Solidarität und Verantwortungsbewusstsein geschafft haben, das Virus einzudämmen. Wir haben es geschafft, den Reproduktionsfaktor in einer gemeinsamen Anstrengung unter 1 zu drücken. Wenn wir jetzt durchhalten und gleichzeitig Tests und Kontakt-Tracing intensivieren, können wir die Krise gemeinsam bewältigen.
Professor Michael Meyer-Hermann ist seit 2010 Leiter der Abteilung System Immunologie am Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung in Braunschweig.
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