"Infektionen zu 80 Prozent außerhalb": Hamburger Zahlenspiele, um die Schulen offen zu halten
Laut Zahlen aus Hamburg stecken sich vier von fünf Schülern außerhalb der Schule an. Allerdings bleiben bei der Erhebung einige entscheidende Fragen offen.
Wie hoch ist das Infektionsgeschehen an Schulen, wie oft stecken sich dort Schülerinnen und Schüler mit dem Coronavirus an? Diese Frage ist zentral für die Entscheidung, ob Schulen in der Pandemie offen gehalten werden – aber immer noch schwer zu beantworten. Denn es fehlen verlässliche Daten. Das liegt auch an den Kultusministerinnen und Kultusministern: Nur selten erheben oder veröffentlichen sie entsprechende Statistiken.
Jetzt meint Hamburg, als erstes Bundesland, eine Antwort auf die Frage gefunden zu haben: 80 Prozent der dort vom 4. August bis 4. Oktober als infiziert erkannten Schülerinnen und Schüler hätten sich außerhalb der Schule angesteckt. Allerdings stammen die Daten aus der Zeit zwischen den Sommer- und Herbstferien, als das Infektionsgeschehen also noch insgesamt relativ niedrig war und auch in Hamburg das exponentielle Wachstum der Coronainfektionen erst noch bevorstand.
"Infektionsgefahr außerhalb der Schule viel höher"
Hamburgs Schulsenator Ties Rabe (SPD), der die Zahlen am Donnerstagmittag präsentierte, geht dennoch davon aus, dass „die Infektionsgefahr außerhalb der Schule viel höher“ sei. Dass er die Zahlen gerade jetzt veröffentlichte, dürfte kein Zufall sein: Am kommenden Mittwoch wollen sich die Ministerpräsidenten und die Kanzlerin über Maßnahmen bei den Schulen unterhalten. Der Bund drängt darauf, zumindest die Klassen zu halbieren, was die Länder ablehnen. Sie beharren darauf, dass Schulen „keine Infektionstreiber“ sind – worin sich Rabe jetzt bestätigt sieht.
Doch geben die Zahlen das her? In den acht Wochen vor den Herbstferien steckten sich Rabe zufolge insgesamt 372 Schülerinnen und Schüler an. Zum Vergleich: allein in der vergangenen Woche waren laut Zahlen der KMK in Hamburg 653 Schülerinnen und Schüler infiziert.
Viele Einzelfälle
Eine Vielzahl der untersuchten Fälle seien Einzelfälle gewesen, ohne dass es an der Schule andere Coronainfektionen gab. „Die können sich also gar nicht an der Schule infiziert haben“, schlussfolgerte Rabe – um später zugeben zu müssen, dass mögliche asymptomatische Fälle naturgemäß nicht berücksichtigt wurden.
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Bei 116 Fällen gab es „Partnerfälle“ an Schulen. Bei 36 dieser Fälle könne man aufgrund von intensiven Gesprächen mit Lehrkräften, Eltern und Gesundheitsämtern aber „sicher“ sagen, dass sich diese ebenfalls nicht in der Schule ansteckten.
Stadtteilschulen auffällig häufig betroffen
Es blieben also 80 Fälle, wo der Infektionsort „vielleicht“ die Schule war, sagte Rabe. Auffällig sei, dass Stadtteilschulen doppelt so häufig betroffen seien wie andere Schularten. Auch er gehe davon aus, dass insgesamt Teenager sich genauso häufig anstecken wie Erwachsene, Kinder bis 12 Jahre dagegen deutlich seltener.
Wie Mediziner Rabes Interpretation der Zahlen einschätzen, war auf der Pressekonferenz nicht zu erfahren: Auf dem Podium saßen neben Rabe nur Vertreter der Schulbehörde und eine Bildungsforscherin. Auf die aktuelle Situation mit einem sehr viel höheren allgemeinen Infektionsgeschehen seien die Zahlen durchaus übertragbar, sagte Rabe auf Nachfrage – auch wenn das noch abschließend geklärt werden müsse.
Allerdings haben Epidemiologinnen und Epidemiologen bei einigen Studien zum Infektionsgeschehen in den Schulen ausdrücklich darauf hingewiesen, dass man die Lage bei einem geringen Infektionsgeschehen in der Gesamtbevölkerung eben nicht eins zu eins auf eine Situation wie jetzt übertragen könne: Weil der Erfolg der Hygienemaßnahmen an den Schulen unter anderem davon abhänge, dass Infektionen bei Schülern (und Lehrkräften) schnell erkannt und dann möglichst viele potenzielle Kontakte noch isoliert werden können.
Die KMK will eine eigene Studie in Auftrag geben
Beides ist mit der Überlastung der Gesundheitsämter aber nicht mehr gegeben. Tatsächlich gibt es Hinweise, dass die Ämter die Quarantäneregeln für Schulen derzeit sogar aufweichen – auch in Hamburg.
Senator Ties Rabe sieht die von ihm präsentierten Zahlen als Grundlage für eine Studie, die die KMK bald in Auftrag geben will, in der Statistiken aus allen Ländern ausgewertet werden sollen. Die KMK werde „eine neue externe Studie beauftragen, die auf Basis der Hamburger Schuldaten belegen soll, dass Schulen vergleichsweise sicher und eben keine Treiber der Pandemie sind und daher auch weiterhin am Präsenzunterricht festgehalten werden soll“, heißt es dazu wörtlich in einer Mitteilung an Journalisten. Eine Formulierung, die nahelegt, dass das Ergebnis schon vor Studienbeginn feststeht. Die Wortwahl sei „unglücklich“, gab Rabe zu: „Natürlich wollen wir wissen, was Sache ist.“
Das Problem heißt "Untertestung"
Das herauszufinden, ist aber alles andere als einfach. Das Problem heißt „Untertestung“: Ältere Teenager und Erwachsene entwickeln nach einer Covid-19-Infektion hinreichend auffällige Symptome, so dass sie sich vergleichsweise häufig testen lassen.
Bei Kindern unter zehn Jahren ist das anders: Insbesondere im Herbst und Winter machen sie alle Nase lang Erkältungen durch, deren Symptome sich – glücklicherweise! – kaum von denen einer Covid-19-Infektion unterscheiden und für die Eltern nicht Anlass genug sind, sie zum Arzt oder gar zur Corona-Teststelle zu bringen.
Dass dem so ist, belegt eine Antikörper-Studie an Kindern in München, bei denen sechsmal mehr Coronainfektionen festgestellt wurden, als per PCR-Test diagnostiziert wurden. Erst wenn die unerkannt infizierten Kinder ältere Menschen, etwa die Eltern selbst, anstecken, gehen diese zum Testen und tauchen bei Positivtestung in den Statistiken auf.
Der Virologe und Coronaspezialist Christian Drosten von der Charité sieht in der Entwicklung der Fallzahlen sogar einen Hinweis darauf, dass dieses Szenario zutreffen könnte. Demnach nehme die Infektionshäufigkeit in der Altersgruppe der 40- bis 50-Jährigen, zumeist Eltern jüngerer Kinder, seit einigen Wochen zu, während „weniger Inzidenz in den Altersgruppen, deren Kinder aus dem Haus sind“, zu beobachten ist, schreibt Drosten auf Twitter: „Das deutet auf unerkannte Inzidenz bei Kindern hin.“
Ein verstecktes Infektionsgeschehen?
Gibt es also an Schulen ein verstecktes Infektionsgeschehen unter Kindern, das erst bei Infektion von Lehrenden und Eltern zu Tage tritt? Dabei stellt sich wieder die Frage, ob Kinder trotz des meist (fast) asymptomatischen Verlaufs ihrer Covid-19-Infektion genauso ansteckend sind wie Erwachsene.
Dass sie im Infektionsfall vergleichbar hohe Viruslasten wie Erwachsene im Rachen haben, ist inzwischen belegt, nicht zuletzt durch Drostens Studien. Selbst wenn sie (aufgrund des kaum symptomatischen Verlaufs der Erkrankung) weniger infektiöse Viren abgeben sollten, hat das im Schulalltag der Grundschulen, wo Kinder nun mal alles andere als Abstand voneinander halten, wohl eher keinen Effekt auf das Ansteckungspotenzial.
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