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Hörtest. Angehörige des Mbenzelé-Stamms im Kongo vergleichen westliche Musik mit den Klängen ihrer Heimat.
© Frontiers

Musikwissenschaft: Grenzenlose Melodien

Ob Richard Strauss oder afrikanische Lieder: Menschen verschiedener Kulturen reagieren ganz ähnlich auf Musik, haben deutsche und kanadische Forscher festgestellt

Er hasse Grenzen, hat er immer wieder gesagt. Doch der vor einem Jahr verstorbene Claudio Abbado war davon überzeugt, dass die Musik sie überwinden kann. Musik kennt keine Grenzen: Unter diesem Motto stehen heute so unterschiedliche Aktivitäten wie internationale Orchestertreffen, Unterhaltungssendungen im Fernsehen und Austauschprogramme musischer Gymnasien. Dass Musik das Handicap der Sprachbarrieren überwinden kann, leuchtet spontan ein.

Doch stimmt diese Behauptung auch im Extremfall, etwa wenn Menschen aus Großstädten des westlichen Kulturkreises die Gesänge anhören, die zum Leben von Menschen aus verkehrstechnisch isolierten Regionen Afrikas gehören, und wenn diese umgekehrt mit Klassik und Pop aus Europa und den USA konfrontiert werden?

Teils ja, teils nein, sagen Musikwissenschaftler aus dem kanadischen Montréal und von der Technischen Universität Berlin. Für ihre Untersuchungen, deren Ergebnisse in der Fachzeitschrift „Frontiers in Psychology“ veröffentlicht wurden, haben sie 40 aktive Hobby- und Profimusiker aus Kanada und 40 Mitglieder des Pygmäenvolkes der Mbenzelé im kongolesischen Regenwald gewinnen können.

Puls, Atmung, Mimik, Stimmung während des Hörens wurden gemessen

Die Mbenzelé leben abgeschieden, ohne Radio, Fernsehen und Elektrizität, ohne Kontakt zu anderen Kulturen mit Ausnahme der benachbarten Bantu. Sie haben eine große Tradition des mehrstimmigen Gesangs. Die Musikethnologin Nathalie Fernando von der Université de Montréal hat mehrere Jahre bei dem Pygmäenvolk gelebt und dort einen Teil der Experimente in die Tat umgesetzt.

Allen Teilnehmern wurden dafür 30 bis 90 Sekunden lange Passagen aus insgesamt 19 Musikstücken aus beiden Kulturen vorgespielt. Dabei erfolgten verschiedene physiologische Messungen, unter anderem von Puls, Atmung und Schweißbildung, außerdem wurde die Mimik der Hörer beobachtet und die durch die Klänge erzeugte Stimmung von ihnen selbst anhand von Piktogrammen wiedergegeben und in Gesprächen erfragt.

„Unser Hauptergebnis ist, dass Hörer aus sehr unterschiedlichen Gruppen in ähnlicher Weise reagierten, wenn es darum ging, als wie anregend oder beruhigend sie die Musikstücke empfanden“, sagt der Musikwissenschaftler Hauke Egermann vom Fachgebiet Audiokommunikation der Technischen Universität Berlin, der zeitweise an der McGill-Universität forschte und die Studie leitete. Egermann führt diese elementare Übereinstimmung auf Aspekte wie Tempo, Tonhöhe und Klangfarbe der vorgeführten Musikbeispiele zurück. „Die körperliche Reaktion wird durch die akustische Struktur der jeweiligen Stücke bestimmt.“ Auf dieser Ebene wirke Musik auf entwicklungsgeschichtlich ältere Verarbeitungsmechanismen im menschlichen Gehirn.

Unter den Stücken der Mbenzelé waren Wiegenlieder, Begräbnismusik und Lieder, die gegen Furcht und gegen Ärger eingesetzt werden, also durchweg für bestimmte Anlässe gedachte mehrstimmige, kontrapunktisch strukturierte Vokalmusik mit Wiederholungen und rhythmischer Begleitung. Die westliche Tradition war unter anderem durch den langsamen Satz aus Schostakowitschs 15. Symphonie, Mendelssohns Italienische Symphonie, Liszt, Wagner und Richard Strauss, aber auch durch Soundtracks von „Star Wars“, „Psycho“ und „Schindlers Liste“ vertreten. Diese Auswahl sollte möglichst die gesamte Bandbreite der Emotionen repräsentieren, die Musik auslösen kann, und sie kam schon bei früheren Studien zum Einsatz.

Die Hörer aus dem Regenwald waren von ihrer eigenen Musik mehr angetan

Zum ersten Mal wurden nun jedoch Menschen aus so weit voneinander entfernten Kulturen beim Musikhören miteinander verglichen, und das mit einer Kombination aus konkreten Messwerten und persönlichen Einschätzungen. Dabei zeigte sich auch deutlich, in welchen Punkten die Teilnehmer nicht übereinstimmten. Während die kanadischen Musikfreunde eine breite Palette von emotionalen Reaktionen auf die Musikbeispiele aus dem eigenen Kulturkreis beschrieben, waren die Reaktionen der Teilnehmer aus dem afrikanischen Regenwald sowohl bei der eigenen als auch bei der fremden Musik weniger variabel. Dabei beurteilten sie ihre eigene Musik durchweg als besser und hoben hervor, dass sie die Stimmung hebt und gute Gefühle weckt. Die westliche Musik wurde tendenziell kritisch gesehen. In der Frage, ob die vorgespielte Musik eher positiv oder negativ auf Gefühle der Hörer wirkte, gab es keine Übereinstimmungen zwischen den Kulturen.

Während es in der westlichen Tradition durchaus erwünscht ist, dass Musik gleich welcher Stilrichtung die Hörer zeitweise traurig und melancholisch stimmt, hat sie bei den Mbenzelé die Aufgabe, negative Gefühle zu vertreiben, wie Musikethnologin Fernando erläutert. Ob nun beim schreienden Baby oder beim Mann, der sich zur Jagd aufmacht. „Negative Emotionen gelten in der Kultur der Pygmäen als Störung der Harmonie des Regenwaldes und sind deshalb gefährlich.“

Wer Filme wie „Psycho“ anschaut, setzt sich dagegen freiwillig der Spannung und dem Gruseln aus, das die hohen Geigenklänge des Soundtracks hervorrufen – und bewertet die Musik möglicherweise gerade wegen dieser Wirkungen als gut. „Neben den Reaktionsmechanismen, die angeboren und allen Menschen gemeinsam sind, wirken beim Hören von Musik auf kognitiver Ebene auch kulturell geprägte Prozesse“, fasst der Musikwissenschaftler Egermann zusammen.

Während Elemente wie Lautstärke, Tempo, Tonhöhe und Klangfarbe überall auf der Welt ganz ähnliche Auswirkungen auf den körperlichen und emotionalen Erregungszustand von Menschen haben, werden unsere Vorlieben für bestimmte Klänge, Melodien und Rhythmen auch vom kulturellen Kontext bestimmt. Musik wirkt grenzenlos, Musikgeschmack kennt durchaus Grenzen.

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