Wie Musik Emotionen entstehen lässt: Homo musicus
Dem Zauber der Musik kann sich fast niemand entziehen, sie gilt als Sprache der Gefühle. Doch warum Menschen zu Musikliebhabern wurden, bleibt ein Rätsel.
Ein mächtiges Schiff durchpflügt den Strom, sendet Wellen und Wirbel in Richtung Ufer. Dort vertäute Boote nehmen den Rhythmus des Kolosses auf, tanzen kurz, beruhigen sich wieder. Rechts und links öffnen sich Weinberge, von Hügeln grüßen Burgen, der Hornruf einer Jagdgesellschaft dringt aus den Wäldern. Weiter geht es durch Nebelschwaden, unmerklich mischt sich die Sonne dazwischen – nicht gleißend, nur als Ahnung. Alles ist Triumph und Vorwärtsdrängen.
Von einer Sekunde zur nächsten bricht das vielschichtige Gebilde zusammen. Der Dirigent hat abgewunken. Auf dem ersten Podest hinter den Streichern führt Emmanuel Pahud die Querflöte vom Mund. Einen Augenblick reflektiert sie das Licht der Bühnenscheinwerfer, als letzten Gruß der wasserglitzernden Welt dieses dritten Satzes von Robert Schumanns Klavierkonzert. Während sich der Dirigent mit der Solistin am Flügel verständigt, erwachen die Zuhörer der Generalprobe in der Berliner Philharmonie wie aus gemeinsamer Trance. Manche müssen im Dunkel erst die Lider heben.
„Viele Menschen schließen nicht deshalb im Konzert die Augen, weil sie dann besser hören, sondern weil sie sich etwas zur Musik vorstellen möchten“, flüstert Stefan Koelsch, Neurowissenschaftler an der Freien Universität Berlin und studierter Geiger. Eine Art Film läuft ab, wie jener vom Schiff auf großer Flussfahrt. Der ist besonders naheliegend, wenn man weiß, dass Schumann zur Zeit der Komposition auf die Elbe bei Dresden blicken konnte. Andere reisen zurück in ihre Kindheit. Für einen Moment ist man wieder ein kleines Mädchen, schmiegt sich vor dem Schlafengehen in eine Ecke des Ohrensessels, während die Mutter eine Schallplatte mit Klaviermusik auflegt. Musik vermag selbst ohne Hintergrundwissen starke Emotionen, ja Glücksgefühle auszulösen. Eine Gänsehaut ist ohnehin nur darunter, wenn die Melodie an ein aufwühlendes Ereignis aus der eigenen Biografie erinnert.
"Nicht überlebenswichtig - aber erfreulich"
Bereits fünf Monate alte Babys bewegen sich gern im Takt von Musik, Milliarden Menschen kommen nicht ohne sie aus. Trotzdem streiten Forscher seit Darwin darüber, wozu die mysteriöse Musikaffinität gut sein soll. Der Harvard-Psychologe Steven Pinker hält sie für ein Nebenprodukt der Evolution. „Käsekuchen für die Ohren“ – nicht überlebenswichtig, aber erfreulich. Wer Musik genießt, nutze dazu Hirnstrukturen, die sich für andere Zwecke entwickelt haben. Ein eigenes „Musikzentrum“ gibt es nicht.
„Umkämpftes Terrain“, bestätigt Stefan Koelsch in der Philharmoniker-Kantine nach der Probe etwas genervt. Er kontert mit einer Anekdote. Als die Abenteurer um Ernest Shackelton umkehren mussten, statt weiter gen Südpol zu marschieren, konnten sie nur das Allernötigste mitnehmen. Auf ihr Banjo wollten sie um keinen Preis verzichten. „Sie brauchten es, um nicht aufzugeben.“
Auf der Bühne habe der innere Zustand der Ausführenden wenig mit den Gefühlen zu tun, die ein Zuhörer im Konzert erleben kann, erzählt Emmanuel Pahud: „Wir sind beim Spielen hochkonzentriert. Auf die Organisation, auf das Vermessen von Zeit und Raum, das exakte Zusammenspiel.“ Manche Dirigenten bauen auf die Hilfe eines in der Probe erzählten Plots wie eine Schifffahrt durch den Nebel, wenn sie die 80 und mehr Mitglieder eines Ensembles auf eine Interpretation einschwören. Selten geraten sie derart in Wallung, dass ein Konzert „zur reinen Emotionssache“ wird.
Die Rollenverteilung „Profimusiker“ und „zuhörender Laie“ ist erst wenige hundert Jahre alt. Einige Kulturen kennen sie bis heute nicht, für sie ist beim Musizieren das Gemeinschaftsgefühl ausschlaggebend. Auch unter unseren Vorfahren hatte derjenige einen Vorteil, der durch Musik ein geübter Mannschaftsspieler geworden war, sagt Koelsch. Wer kooperiert, überlebt. Schon in der Steinzeit dürfte das mehr gewesen sein als rhythmisches Stampfen. Als ältestes Instrument gehörte die Flöte zum Repertoire. Auf der schwäbischen Alb ausgegrabene Exemplare wurden vor etwa 40 000 Jahren aus Knochen gefertigt.
Vielleicht kamen Sprache und Musik gleichzeitig in die Welt
Was in der Steinzeit als Schule des Sozialverhaltens funktionierte, klappt auch bei Teenagern aus schwierigem Umfeld. Vor einigen Jahren entwickelten die Philharmoniker mit ihnen „Rhythm is it!“, ein Tanzstück zu Igor Strawinskys „Sacre du Printemps“. „Diese Jugendlichen haben zum ersten Mal kennengelernt, wie man etwas gemeinsam probt und sich mit unterschiedlichen Stimmen ausdrückt. Aber auch, wie viel Platz man in so einer Gruppe hat, wo Grenzen sind und wie man sich anpasst“, erinnert sich Pahud.
Vielleicht kamen Sprache und Musik gleichzeitig in die Welt, als Teil eines Lautsystems, das noch keine Wörter kannte, aber einfache Gefühle ausdrücken konnte. Das zumindest schlägt der Emotionsforscher Jaak Panksepp von der Bowling Green State Universität in Ohio vor. Die Grenzen zwischen beiden Sphären verschwimmen noch immer. Die sie verarbeitenden Nervennetzwerke überlappen sich, sagt Koelsch. Die Struktur eines Musikerlebnisses wird auch in den Sprachzentren der linken Gehirnhälfte analysiert. Und die natürliche Melodie der Sprache, die Prosodie, wird vor allem in der rechten Hirnhälfte verarbeitet.
Kein Mensch redet mit Roboterstimme, erst recht keine Mutter. Ihre Sprachmelodie kennt ein Baby bereits kurz nach der Geburt. Es versteht Lob und Tadel, Trost und Ermutigung. Auch Erwachsene können einfache Emotionen in jeder beliebigen Sprache erkennen, sagt Koelsch. „Wir hören, ob unser Gegenüber fröhlich oder traurig ist, ob es sich ekelt oder fürchtet.“ Westliche Musik greift diese Prosodie auf, einfache derart transportierte Gefühle können Zuhörer aus jedem Kulturkreis dechiffrieren. Sie stecken an, lösen kleinste Muskelbewegungen im Gesicht von Versuchspersonen aus, „so wie man ein freundliches Lächeln unwillkürlich erwidert“.
Ein Spiel mit Erwartungen
Auf die Frage, welche umstürzlerischen Gefühle seine im März erscheinende CD „Revolution“ wachrufen soll, lacht der Franzose Pahud: Identitätsstiftende Lieder für den Barrikadenbau gibt es nicht zu hören, doch die vertretenen zeitgenössischen Pariser Komponisten hätten viele musikalische Konventionen durchbrochen.
Das Spiel mit den Erwartungen ist der zweite Mechanismus, durch den Musik ohne bewusste Deutung Emotionen entstehen lässt. Der Paukenschlag nach einer ruhigen Passage lässt den Puls sofort rasen. Die alten, im Hirnstamm verdrahteten Reflexe, die uns vor Gefahr warnen, sind schneller als die Neuronen in der Hirnrinde, die melden: „Kenn’ ich! Alles gut, gehört zum Stück!“
Das Gehirn versucht pausenlos, aus dem Chaos der Sinneseindrücke relevante Muster herauszufiltern. Es extrahiert Regeln, speichert sie ab und wendet sie beim nächsten Mal an, um daraus Vorhersagen zu generieren. Sogar Menschen, die sich als unmusikalisch bezeichneten – ohne aktive Musiziererfahrung, theoretisches Wissen oder zusätzliche Gehörschulung – reagieren in Koelschs Tests eindeutig auf Bauplanstörungen in computergenerierter Musik von Bach bis Beethoven. „Ihnen ist das nicht bewusst. Sie können kaum glauben, wenn wir es ihnen mit dem Bild ihrer Hirnströme beweisen“, sagt er. Die vom Gehirn registrierten Unregelmäßigkeiten betrafen Instrumentenwechsel oder unerwartete „Stellvertreterakkorde“ in einer Kadenz ebenso wie einzelne, im Akkordzusammenhang „falsche“ Töne.
Zu viel Neues verärgert die Zuhörer
Komponisten nutzen solche Brüche als Stilmittel. Denn nicht nur eine verspätet eingetretene Wendung bereitet dopamingesättigtes Behagen. Auch auf die Spannung durch einen harmonischen Trugschluss springt das Belohnungssystem an. Bereits Bekanntem wird eine neue Variante hinzugefügt. Vielleicht ist Letzteres der Grund, warum Emmanuel Pahud „vor allem komplexe Improvisationsverfahren des Jazz“ gefallen. Für das Premierenpublikum von „Sacre du Printemps“ im Jahr 1913 dagegen war Strawinskys Stück eine Zumutung. Der Komponist bombardierte die Zuhörer so ungnädig mit Neuem, dass seine Gegner leichtes Spiel hatten, unter den Frustrierten einen Tumult anzustiften.
Musik evoziert keine Illusion von Gefühl, sondern regt fast jedes emotionale Areal im Gehirn an, sagt Koelsch. „Das schafft kein anderer künstlicher Stimulus.“ Er braucht keine Bestätigung per Hirnstromkurve oder Scan, dass Musik großartig ist. Sie ist für ihn ein Werkzeug, um das Emotionen steuernde Orchester aus Hormonen und Neurotransmittern, evolutionär alten und neueren Hirnarealen besser zu verstehen.
"Musikalische Anhedoniker" stehen vor sozialen Herausforderungen
Während Reize wie Geld, Schokolade, erotische oder schockierende Bilder den Hippocampus kalt lassen, leuchten die Neuronen in der seepferdchenförmigen Struktur auf, wenn ein Proband Musik hört. Außerdem gibt es dort viele Andockstellen für das Bindungshormon Oxytocin. Koelsch und seine Kollegen gehen davon aus, dass im Hippocampus nicht nur neue Erinnerungen geformt, sondern auch Freude generiert und die Beziehung zwischen Mutter und Kind eingerichtet wird. „Das ist plausibel, weil es die einzige Struktur ist, die bei einer Depression beeinträchtigt ist.“
Auch das besser erforschte Zusammenspiel zwischen Belohnungssystem und Emotionen hält noch Überraschungen parat. Neu ist zum Beispiel die Entdeckung, dass einige gesunde Menschen „musikalische Anhedoniker“ sind. Obwohl sie Musik wie jeder andere wahrnehmen, berührt sie sie nicht. Auf andere Reize, etwa einen Geldgewinn, reagierten sie dagegen ähnlich wie die restlichen Probanden. „Manche ließen sich von Freunden beraten, als ich sie bat, ihre Lieblings-CD mitzubringen. Sie waren sich ganz sicher: Musik ist nicht mein Ding“, sagt Neurowissenschaftler Josep Marco-Pallarés von der Universität Barcelona. Messungen von Hautwiderstand und Herzrate bestätigten diese Eigenwahrnehmung. Abstrakt erkannten die zehn Anhedoniker musikalische Stimmungen jedoch sehr wohl.
So bedauernswert sie Musikliebhabern erscheinen, Musik-Anhedoniker sind weder depressionsgefährdeter als ihre Mitmenschen noch unglücklich. Sonstige Reize erreichen ihr Belohnungssystem ohne Weiteres, sämtliche andere Genüsse stehen ihnen offen. Warum, ist unklar. Marco-Pallarés bemerkt ein zwischenmenschliches Problem: „Eine solche Anhedonie kann in unserer Kultur, in der private wie gesellschaftliche Beziehungen so weitreichend auf Musik basieren, zum sozialen Handicap werden.“
Für Stefan Koelsch ist so etwas schlicht „nicht normal“. Er überlegt, ob er noch ins Konzert gehen soll. Emmanuel Pahud freut sich dagegen auf einen Abend ohne Flötentöne. Ein anderes Berliner Orchester bereitet sich statt der Philharmoniker für den Auftritt um 20 Uhr vor. Mit Schrankkoffern und Kisten übernehmen die Gäste rasch und geräuschvoll das Terrain. Akustischer Wildwuchs aus Kantinengeklapper, Gesprächsfetzen und Posaunenglissandi bleibt hier jedoch ein kurzes Intermezzo. Nebenan im Großen Saal wird die Musik gleich wieder so zu fließen beginnen, dass Spieler und Zuhörer „fast eine perfekte Welt“ teilen können.
Mitarbeit: Jana Schlütter
Annette Zerpner