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Zwei Männer, einer in den polnischen Farben geschminkt, einer in den deutschen, blicken lachend in die Kamera.
© REUTERS

Erstes deutsch-polnisches Schulbuch: Gemeinsame Geschichte in Europa

Unser Europa: Das erste deutsch-polnische Geschichtsbuch soll Schülern beider Länder helfen, sich von Stereotypen zu befreien, sagt Polens Außenminister Waszczykowski.

Im bitterkalten Winter des Jahres 1000 machte sich Kaiser Otto III. von Rom auf ins Piastenreich. Er kam in christlicher, aber friedlicher Mission. In Eulau am Bober hatte man ihn erwartet. Slawenfürst Boleslaw I., der Tapfere, empfing Otto mit allen Ehren – und wurde von diesem symbolisch gekrönt. „Boleslaw erkennt in ihm den Menschen und auch den Freund“, erklärte Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) am Mittwoch Schülern der Robert-Jungk-Oberschule in Berlin-Wilmersdorf. Und fuhr fort, eher an die erwachsenen Festgäste gerichtet, diese Begegnung, bekannt als Akt von Gnesen, gebe „eine frühe Ahnung davon, was deutsch-polnische Beziehungen sein können“.

Geschichtsbuch in zwei Sprachen, inhaltlich identisch

Was in der Europaschule mit deutsch-polnischem Schwerpunkt gefeiert wurde, ist angesichts der unterschiedlichen und häufig kontroversen Geschichtsbilder in beiden Ländern eine geschichtspolitische Sensation. Druckfrisch vorgestellt wurde das erste gemeinsame Schulbuch: „Europa. Unsere Geschichte“ beziehungsweise „Europa. Nasza Historia“ soll im deutschen und im polnischen Geschichtsunterricht der Sekundarstufe I in zwei Sprachfassungen, ansonsten aber mit identischen Inhalten zum Einsatz kommen.

Der Einband eines Geschichtsbuchs.
Der erste Band von "Europa. Unsere Geschichte/Europa. Nasza Historia" deckt die Zeit von der Urgeschichte bis ins Mittelalter ab.
© null

Der erste Band von der Ur- und Frühgeschichte über die Antike bis ins Mittelalter liegt nun vor, drei weitere, die bis in die Gegenwart führen, sollen bis 2020 erscheinen. Die Kosten in Höhe von 1,65 Millionen Euro tragen beide Länder.

Nach allem, was Deutschland Polen im 20. Jahrhundert angetan hat

Polens Außenminister Witold Waszczykowski von der nationalkonservativen PiS mag als Falke gelten und die deutsche Flüchtlingspolitik in harschen Worten gegeißelt haben: Das gemeinsame Schulbuch begeistert den promovierten Historiker ebenso wie seinen deutschen Amtskollegen. Deutsche und polnische Schülerinnen und Schüler könnten mit dem Buch „die gemeinsame Geschichte aus gleicher Perspektive kennenlernen“, sagte Waszczykowski. „Das wird den Dialog erleichtern, von Stereotypen befreien und gegenseitige Toleranz ermöglichen.“ Steinmeier ordnete das Geschichtsbuch in die Feierlichkeiten zum 25-jährigen Jubiläum des deutsch-polnischen Nachbarschaftsvertrags ein. Der Termin sei nicht weniger wichtig als die gemeinsame Kabinettssitzung, die am Nachmittag im Kanzleramt stattfand. Allerdings sei gute Nachbarschaft in Europa auch heute keine Selbstverständlichkeit. „Nicht nach allem, was Deutschland den Polen im 20. Jahrhundert angetan hat und in einem Europa, dessen Zusammenhalt wir mit aller Kraft bewahren wollen“, sagte Steinmeier.

Keine der Regierungen hat hineingeredet, heißt es

Er war es, der das Projekt 2006 angeregt hatte, in dem Jahr als das erste deutsch-französische Geschichtsbuch erschien. Zehn Jahre dauerte es bis zum Erscheinen des ersten deutsch-polnischen Bandes. Derzeit ist man gegenüber dem ursprünglichen Zeitplan ein Jahr im Verzug. Dies erklärt sich zum einen mit den politischen Prozessen: 2008 betrauten die damaligen Außenminister die Gemeinsame Deutsch-Polnische-Schulbuchkommission mit einem Konzept, 2010 lag es vor. Dann machten sich ein deutsch-polnisch besetzter Steuerungsrat sowie ein Expertenrat an die Arbeit. Abgestimmt wurde alles mit Vertretern zahlreicher beteiligter Ministerien und nicht zuletzt mit 16 deutschen Ländern. Schließlich sollte – koordiniert vom Georg-Eckert-Institut für Internationale Schulbuchforschung – ein reguläres Schulbuch im Einklang mit allen Lehrplänen entstehen. Keine der Regierungen, auch nicht die aktuelle polnische, aber habe inhaltlich hineingeredet, heißt es am Institut.

Nicht nur aus der bislang dominierenden westlichen Perspektive

Ein Balanceakt ist es allemal, die maximal zugelassenen 260 Seiten pro Band einvernehmlich zu füllen. „Wir haben viel voneinander gelernt“, bilanzierte diplomatisch der Ko-Vorsitzende des Expertenrats, Michael G. Müller, Historiker an der Universität Halle-Wittenberg. Ziel sei nicht eine „einheitliche, geglättete Erzählung“, vielmehr würden die unterschiedlichen historischen Erfahrungen aller Europäer abgebildet, „die sich in unterschiedlicher Weise erinnern“. Die Schüler sollten lernen, „selbst zu einem kritischen Urteil über die Geschichte Europas und über die eigene Geschichte“ zu kommen. Von polnischer Seite kam dann doch eine kleine Spitze. Es handele sich um das erste Schulbuch, „das ein gemeinsames Narrativ des westlichen und östlichen Europas“ enthält – und zwar „nicht nur aus der bislang dominierenden westlichen Perspektive“, sagte der Ko-Vorsitzende Robert Traba vom Zentrum für Historische Forschung Berlin der Polnischen Akademie der Wissenschaften.

"Blickwinkel" erlauben es, dass im Buch beide Seiten zu Wort kommen

Die Ur- und Frühgeschichte dürfte kaum deutsch-polnische Kontroversen aufgeworfen haben. Aber spätestens ab dem Mittelalter wird es heikel. Was etwa fanden die deutschen Siedler vor, die nach der Wende vom 10. zum 11. Jahrhundert gen Osten zogen? Dünn besiedelte Gebiete, in denen sie den slawischen Bauern „viel Neues“ beibringen konnten? Oder stießen arme deutsche Bauern auf der Flucht vor ausbeuterischen Feudalherren auf „polnische Herren“, die ihnen großzügig Privilegien zubilligten? Die Expertenteams haben eine Form gefunden, um solche unterschiedlichen Sichtweisen zu dokumentieren – in die Kapitel eingeblockte „Blickwinkel“.

Je näher man an die Neuzeit herankommt, desto problematischer

Über weite Strecken aber herrscht etwa im Kapitel zu Städten im Mittelalter ein ausgeglichenes Nebeneinander. So werden die Freiheiten und Rechte der Stadtbürger anhand von Freiburg erklärt und die Merkmale einer mittelalterlichen Stadt am Beispiel von Krakau. Doch der frühe Kampf der Kulturen wird nicht verschwiegen. Unter anderem sollen sich die Schüler mit einem Befehl des Breslauer Bischofs aus dem 15. Jahrhundert auseinandersetzen, dass künftig alle Einwohner und Bauern einer Nachbargemeinde nur noch Deutsch sprechen dürften. Je näher man an die Neuzeit herankommt und gar in die Zeit der Weltkriege, desto anspruchsvoller werde die Verständigung, ist aus Autorenkreisen zu hören.

"Frank-Walter, mein Freund, wir sehen uns im EM-Finale"

Zwischen Steinmeier und Waszczykowski jedenfalls war beim Schulbesuch der gegenseitige Respekt greifbar. Steinmeier lobte das „diplomatische“ EM-Vorrundenspiel zwischen Deutschland und Polen, das im Stade de France 0:0 ausging – unter den Augen der Amtskollegen. „Frank-Walter, mein Freund, ich wünsche mir, dass wir uns wiedertreffen – im EM-Finale“, erwiderte Waszczykowski. Spätestens jetzt hatten die Minister auch die Herzen der deutschen, der polnischen und der deutsch-polnischen Schülerinnen und Schüler für dieses Projekt erobert.

"Europa. Unsere Geschichte": Die deutsche Fassung des Geschichtsbuchs für die 5. und 6. Klassen erscheint im Verlag Eduversum (Wiesbaden) und kostet 24,80 Euro (ISBN: 978-3-942708-29-6).

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