Shakespeare-Kongress in Berlin: Gebrochene Helden
Shakespeare in Berlin: Wissenschaftler hinterfragen seine Heroen und Heroinnen – und den Kult um seine Person.
Alles, was wir haben, ist der Taufeintrag im Stratforder Kirchenregister. „Gulielmus filius Johannes Shakspere“ ist dort für den 26. April 1564 als Täufling verzeichnet. Der Geburtstag von William, Sohn des John Shakespeare, wird traditionell drei Tage zurückdatiert und fällt damit auf den 23. April, den Festtag des Heiligen Georg, des heldischen Schutzpatrons eines sich gerne heldisch gebenden England. Und da Shakespeare nachweislich an diesem Tag auch gestorben ist, rundet sich so sein zweiundfünfzigjähriger Lebenslauf zur mythischen Geschlossenheit einer Heldenvita.
Die deutschen Heroen der Weimarer Klassik erkannten in Shakespeare ihresgleichen. Enorm sind die kulturellen Energien, die seitdem verausgabt wurden, um die Galionsfigur englischer Kultur in den Kanon der deutschen Klassiker einzubürgern, als Drittem neben Goethe und Schiller. Gekrönt wurde dieser Aneignungsprozess mit der Gründung der Deutschen Shakespeare-Gesellschaft am 23. April 1864 in Weimar. Jetzt trifft sich die älteste der aktiven nationalen Shakespeare-Gesellschaften erstmals in Berlin. Die viertägige Tagung an der Freien Universität, traditionstreu beginnend mit dem mythischen Geburtsdatum, ist Shakespeares Helden und Heldinnen gewidmet.
Gefragt wird nach den Konzeptionen des Heroischen hinter seinen Helden und Heldinnen. Die geschichtliche Erfahrung lässt uns Brechts „Unglücklich das Land, das Helden nötig hat“ plausibel werden. Die Relation zwischen Held und Terrorist wird zum traumatischen Vexierbild.
Ironien und Ambivalenzen
Desto schärfer aber treten nun an Shakespeares Heldenfiguren ihre Vielfalt und Widersprüchlichkeit, ihre Ironien und Ambivalenzen zutage. Denn Shakespeare, das gewiefte Theatergenie, spielt nicht nur die bis heute andauernde Faszinationskraft seiner großen Bühnenhelden bewusst aus. Sie taugen ihm auch dazu, ihren Heroismus zu problematisieren oder zu demontieren, sei dies auf karnevaleske Weise wie durch Falstaff im Heinrich IV oder mit subtil ideologiekritischer Ironie wie im Heinrich V.
Besonders deutlich wird dies gerade bei jenen Stücken, bei denen man die Zurschaustellung antiker Heldengröße erwarten würde: den Griechen- und Römerdramen. Im Julius Caesar ist der überlebensgroße Heroe der römischen Geschichte durch menschlich, allzu menschliche Züge wie seine Fallsucht, sein Schwanken oder seinen Aberglaube gekennzeichnet, die seine mythische Größe und seine Selbstheroisierung immer wieder infrage stellen. In Troilus und Cressida haben dann die homerischen Heroen gänzlich an mythisch-heroischer Statur eingebüßt: Ajax wird zum hirnlos eitlen Muskelprotz, Achilles zum schmollenden Schwulen, Hektor zur blassen Nebenfigur, deren Heldentod keine tragische Erschütterung mehr auszulösen vermag. Das heißt aber nicht, dass das Stück nichts als Mythentravestie wäre. Manches bleibt bewegend, und in solchen Momenten markiert Shakespeare immer wieder die Fallhöhe vom Heroischen ins Triviale oder Lächerliche.
Als Liebesheld disqualifiziert Othello sich
Auch und vor allem seine Tragödien haben ihre Helden, aber diese erweisen sich ebenfalls als vielfältig beschädigt und werden kaum den heroischen Erwartungen des Publikums noch dem eigenen heroischen Anspruch gerecht. So mangelt es Macbeth zwar nicht an Heldenmut, doch agiert er diesen gegen alle Widerstände seines wachen und tiefen moralischen Bewusstseins in der erschreckenden Karriere eines serial killer aus. Othello tritt zwar als der strahlende Kriegsheld an, als Liebesheld jedoch disqualifiziert er sich fatal. Schon in Romeo und Julia geht die Heldenrolle an die Frau: Es ist sie, eine 16-Jährige, die das höhere Risiko eingeht, während er eher als Softie erscheint und von ihr erst lernen muss, was es heißt, bedingungslos in der Liebe zum anderen aufzugehen.
Hamlet schließlich hätte wohl das Zeug zum Helden und besticht durch ein Denken von heroisch kühner Radikalität. Traumatisiert durch den Tod des Vaters verliert sich jedoch heldisch entschlossene Tatkraft in quälendem Selbstzweifel und ironischer Selbstbespiegelung.
Das Heldische wird kritisch analysierend zergliedert
Solche Reduktionen und Relativierungen des Heroischen sind charakteristisch für ein dramatisches Werk, das sich der „theatralischen Sendung“ als Medium der Heroisierung entzieht. Es feiert den Heroismus nicht, wohl aber führt es Heroen und Akte der Heroisierung vor, um diese für eine kritische Analyse zur Schau und zur Frage zu stellen. In diesem Sinn sind Shakespeares Dramen eine Anatomie des Heldischen, eine systematische und kritisch analysierende Zergliederung aller Formen der Heroisierung und all dessen, was als Heldentum gelten will.
Nicht um eine Heldenfeier also wird es in Berlin gehen. Vielmehr gilt es, Shakespeares Skepsis gegenüber dem Heroischen zu erneuern. Und darum, jene Traditionen in Theater, Kritik und Bildungswesen zu hinterfragen, die in seinem Namen das Heldentum gefeiert und ihn selbst zum „Cultural Hero“ eines großen Britannien (Thomas Carlyle, 1841) gemacht haben. In diese un-festliche Richtung weist schon die Auswahl der Redner und Themen der beiden Festvorträge, die die Tagung rahmen: James Simpson (Harvard) über das recht unheroische „Maß für Maß“ und der britische Schockdramatiker Mark Ravenhill über „Hamlet from Malcolm X to American Psycho“.
Das Faszinierende an Shakespeares großen Helden und Heldinnen liegt eben nicht nur in ihrer Größe, sondern gerade auch in ihrer Übergröße oder ihrer Gebrochenheit, wie genauere Blicke etwa auf seinen Coriolanus (Verena Lobsien, HU), den Julius Caesar (Freya Sierhuis, York) oder die mythische Folie Robin Hoods in seinen Stücken (Andrew James Johnston, FU) enthüllen werden. Doris Kolesch (FU) schließlich fragt theaterkritisch „Wie Othello spielen?“, eine Podiumsdiskussion unter anderem mit der Journalistin Carolin Emcke über Shakespeares Helden und Heldinnen heute.
Ludwig Tieck gab dem Meister eine deutsche Stimme
Berlin ist nicht Weimar, aber zweifellos eine würdige Kulisse für den Aufzug der Shakespeare-Experten. Der Berliner Ludwig Tieck wirkte wesentlich mit, dem Meister aus England eine deutsche Stimme zu geben. Mit Ludwig Devrients Shakespeare-Rollen am Berliner Schauspielhaus wird er im frühen 19. Jahrhundert zum Liebling des deutschsprachigen Theaters. An den Universitäten der Stadt haben seit dem neunzehnten Jahrhundert bedeutende Shakespeare-Forscher gelehrt. Und ganz selbstverständlich stehen auf dem Tagungsprogramm aktuelle Aufführungen, darunter Leander Haußmanns „Hamlet“ und Veit Schuberts „Zwei Herren aus Verona“ am Berliner Ensemble, Tilmann Köhlers „Macbeth“, Stephan Puchers „Was Ihr wollt“ und Christopher Rüpings „Romeo und Julia“ am Deutschen Theater sowie Sasha Waltz’ „Roméo et Juliette“-Ballett an der Deutschen Oper.
War der Stratforder Handschuhmachersohn wirklich der Autor?
Was in Berlin wohl nicht erörtert werden wird, ist die Frage, die gerade in den letzten Jahren, spätestens seit Roland Emmerichs Anonymous (2011), in Film, Fernsehen und Feuilleton neu hochkocht: Ob der Stratforder Handschuhmachersohn wirklich alle unter seinem Namen agierenden Heldenfiguren geschaffen hat. Alles, was man dazu sagen kann, ist, dass viel mehr für Shakespeare als für die Gegenkandidaten wie den Earl of Oxford oder den Lord Chancellor Francis Bacon spricht. Und dass gegen seine Verfasserschaft letztendlich nur das soziale Vorurteil spricht, nach dem kein Provinzler aus bescheidenen Verhältnissen ein Schöpfer großer Kunst und kultureller Heros werden könne.
Der Autor ist Professor i. R. für Englische Literatur an der FU Berlin. Organisiert wird die Tagung von der Präsidentin der Gesellschaft, der Komparatistin Claudia Olk, FU. Das Programm ist zu finden unter http://shakespearegesellschaft.de. Für Nichtmitglieder kostet die Teilnahme 60 Euro, Anmeldung unter office@shakespeare-gesellschaft.de.
Manfred Pfister
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