Psychologie: Ganz schön weltfremd
Psychologische Studien scheinen eine Menge über unser Verhalten und Erleben auszusagen. Doch viele entstehen unter künstlichen Bedingungen.
Oxytocin gilt nicht nur als Kuschel- und Liebeshormon, sondern auch als Hormon, das uns anderen Menschen Vertrauen schenken lässt. Letzteres scheinen psychologische Studien eindrucksvoll zu belegen. Nach Einnahme von Oxytocin in Form eines synthetischen Nasensprays vertrauten Probanden in Spielen um Geld einem unbekannten Spielpartner viel häufiger als Versuchspersonen, die nur ein Scheinmedikament (Placebo) erhalten hatten. Doch mittlerweile mehren sich die Zweifel, ob man den Befunden zum „Vertrauenshormon“ selbst rundheraus vertrauen kann. So fand etwa ein Team um den Psychologen Anthony Lane von der Université catholique de Louvain keinen Unterschied zwischen Menschen, die einige Sprühstöße Oxytocin erhalten hatten, und einer Kontrollgruppe. Und diese im Fachblatt „Plos One“ erschienene Studie ist längst nicht die einzige ihrer Art.
Wie kommt es zu den unterschiedlichen Ergebnissen? Unter natürlichen Bedingungen wird Oxytocin im Gehirn im Hypothalamus, einer Schaltzentrale im Zwischenhirn, hergestellt und ausgeschüttet. Ganz anders sieht die Situation allerdings unter den künstlichen Bedingungen des Labors aus. Es ist unter Forschern umstritten, ob das Hormon, als Nasenspray verabreicht, überhaupt das Gehirn erreicht. Außerdem wird die Wirkung von Oxytocin auf Vertrauen von komplexen und individuellen Faktoren beeinflusst. Sie hängt etwa davon ab, ob ein Proband Zurückweisung fürchtet oder eher Angst vor Bindungen hat.
Die Bedingungen im Labor werden der Wirklichkeit oft nicht gerecht
Am Beispiel Oxytocin wird augenfällig, was für eine ganze Reihe von Studien in der Psychologie gilt. Zwar scheinen sie direkt etwas über uns, unser Verhalten und Erleben, auszusagen. Doch die psychologische Forschung findet vielfach unter extrem künstlichen Bedingungen statt, die der Vielfalt der Wirklichkeit außerhalb des Labors nicht gerecht werden.
Freilich haben Psychologen gute Gründe für ihr Vorgehen. Die alltägliche Wirklichkeit steckt voller Unwägbarkeiten und lässt sich nur bedingt berechnen. Im Labor hingegen möchten Psychologen alle Versuchsbedingungen und Einflussfaktoren unter Kontrolle halten. Wollen sie etwa den Zusammenhang zwischen Oxytocin und Vertrauen prüfen, sollen sich zwei Gruppen von Versuchspersonen nach Möglichkeit nur in einem einzigen Kriterium unterscheiden: Die einen bekommen das Molekül mit dem schillernden Ruf, die anderen eben nicht.
„Letztlich muss man immer abwägen“, sagt der Sozial- und Wirtschaftspsychologe Stefan Schulz-Hardt von der Uni Göttingen. Wenn man Feldforschung nah an der Lebenswelt der Menschen betreibe, seien die Erkenntnisse eher ökologisch valide, will heißen, über das Labor hinaus auch für das Alltagsgeschehen gültig. „Man muss damit aber die strenge experimentelle Kontrolle preisgeben.“ In der experimentellen Laborforschung hingegen habe man die größtmögliche Kontrolle, sei aber relativ weit von der alltäglichen Welt der Menschen entfernt.
Nach Amokläufen ist ein Mitschuldiger schnell klar: Videospiele
Derlei Überlegungen sind kein Luxusproblem für Forscher in ihrem Elfenbeinturm. Psychologische Erkenntnisse haben einen immensen Einfluss. Das zeigen etwa die Fälle, bei denen anlässlich eines Amoklaufs in der medialen und politischen Diskussion ein Mitschuldiger schnell ausgemacht ist: Der Konsum von gewalttätigen Videospielen, die die Täter auf ihrem Rechner hatten. Schließlich gehen einige Wissenschaftler tatsächlich davon aus, dass brutale Games einen der Risikofaktoren für Aggressionen und Gewalttätigkeit darstellen.
Aus ethischen Gründen können Forscher Probanden natürlich nicht in eine Situation bringen, in der sie wie im realen Leben gewalttätig gegeneinander vorgehen. Der häufigste Aggressionstest ist ein Reaktionszeitspiel. Die Versuchsperson tritt dabei gegen einen vermeintlichen Gegner im Nebenraum an, der in Wirklichkeit gar nicht existiert.
Tatsächlich spielt die betreffende Person gegen ein Computerprogramm, das schon vor Spielbeginn Sieg und Niederlage festgelegt hat. Der Gewinner einer Runde kann dann den Verlierer mit einem unangenehmen Geräusch wie dem Kratzen von Nägeln über eine Schiefertafel oder einem lauten Fiepen bestrafen. Je lauter und länger der Proband den fiktiven Spielpartner bestraft, desto aggressiver scheint er zu sein. Und zeigt er nach dem Spielen eines gewalttätigen Games im anschließenden Reaktionszeitspiel mehr Aggressionen, scheint der Fall klar.
Es gibt auch Belege dafür, dass die Spiele friedlicher machen
„Aus meiner Sicht bleibt allerdings fraglich, ob das Reaktionszeitspiel ein gutes Maß für Aggressionen darstellt“, sagt der Psychologe Malte Elson von der Uni Bochum. Denn der Test habe wenig Ähnlichkeit mit Situationen aus dem Alltag. Das fange schon damit an, dass man im realen Leben das Opfer des eigenen aggressiven Verhaltens sieht. Außerdem seien die Geräusche im Labor zwar ganz schön unangenehm. „Aber es ist dennoch keine Form von Aggression, an die man denkt, wenn Forscher in Studien und in den Medien davon sprechen, dass Videospiele gewalttätig machen.“ Mit Kollegen hat Elson zudem mehr als 100 Studien zum Thema Aggression und Videospiele überprüft und festgestellt: „Man findet sowohl Belege dafür, dass die Gewalt in Computerspielen aggressiv macht, als auch dafür, dass sie keinen Effekt hat oder sogar eher friedlich macht – nur indem man verschiedene Methoden anwendet.“
Es kommt noch besser. Viele psychologische Studien zu menschlichem Verhalten entstehen gar nicht im Labor, sondern auf dem Papier. Die Probanden erhalten einen Fragebogen, versetzen sich in eine hypothetische Situation und schreiben die Antworten dann kraft ihrer Vorstellungskraft nieder. Doch derartige Ergebnisse können irreführend sein, wie ein Experiment des Göttinger Psychologen Stefan Schulz-Hardt zeigt. In einem der Versuche sitzt ein Proband in einem Raum an der Uni. Plötzlich steht ein zweiter, vermeintlicher Studienteilnehmer auf, greift sich einen im Zimmer liegenden USB-Stick und fragt: „Ist das Ihrer? Nicht? Dann ist das jetzt meiner!“
Zivilcourage hat hohe soziale Kosten
Auf dem Papier, in einer Befragung, wollte mehr als die Hälfte in solch einer Situation Zivilcourage zeigen und eingreifen. In der Realität tat das nur rund jeder siebte. „Wir vermuten, dass bei der Zivilcourage hohe soziale Kosten im Spiel sind“, sagt Schulz-Hardt. „Man muss mit anderen auf sehr unangenehme Art und Weise umgehen, entweder sich beispielsweise direkt mit dem Täter auseinandersetzen oder im Falle eines Verbrechens bei der Polizei oder vor Gericht aussagen.“ In der Theorie glauben Menschen, sie könnten dennoch Zivilcourage zeigen. In der Praxis stellt diese unangenehme soziale Situation aber offenbar eine zu große Hürde für sie dar.
Das wiegt umso schwerer, wenn bei einem Forschungsthema Befragungen die Regel und nicht die Ausnahme sind. „Die Erkenntnisse zur Zivilcourage beruhen hauptsächlich auf Befragungen und selten auf der Untersuchung von tatsächlichem Verhalten“, erläutert Schulz-Hardt. Aus den Ergebnissen habe man recht weitreichende Schlussfolgerungen gezogen. „Man hat behauptet, man könne die Zivilcourage durch bestimmte Trainings steigern, und hat den Erfolg dieser Maßnahmen dann daran festgemacht, dass die Teilnehmer hinterher öfter angeben als vorher, eingreifen zu wollen.“
Befragungen über das eigene Verhalten sind fehleranfällig
Befragungen haben Vorzüge. Mit geringem Aufwand können Forscher Daten anhäufen. Diese Methode eignet sich aber nicht für jedes Thema. Befragungen mit hypothetischen Situationen zielen auf die subjektiven Theorien von Menschen ab, wonach sie zu handeln glauben. „Das funktioniert nur in manchen Bereichen“, sagt Schulz-Hardt. Wenn man etwa wissen möchte, wie Probanden bestimmte Verhaltensweisen bei anderen beurteilen, dann könne man mit hypothetischen Situationen arbeiten. „Aber wenn ich wissen will, was der Proband selbst in der Situation tun würde, dann komme ich eben um eines nicht herum: echtes Verhalten zu untersuchen.“
Christian Wolf