Position zum 27. Januar: Für ein Holocaust-Gedenken, das wirklich kollektiv ist
Nicht nur die plurale Gesellschaft fordert die deutsche Erinnerungskultur derzeit heraus. Ein Plädoyer, das Gedenken neu zu denken.
Der Autor dieses Gastbeitrags, Derviş Hızarcı, ist Vorstandsvorsitzender der Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus (KIgA) und war 2019-21 Antidiskriminierungsbeauftragter des Berliner Senats für Bildung, Jugend und Familie.
Vor einer Woche der 80. Jahrestag der Wannseekonferenz, jetzt der Holocaust-Gedenktag: Auch wenn wir wissen, dass die systematische Auslöschung der Juden weder in der Wannsee-Villa beschlossen noch dort geplant wurde, ist diese Konferenz doch ein Sinnbild für die kalte Effizienz, die hinter diesem schlimmsten Verbrechen steht. Wir müssen heute fest davon ausgehen, dass dieser Zivilisationsbruch, dem die Vereinten Nationen 2005 einen internationalen Gedenktag am 27. Januar, dem Tag der Befreiung von Auschwitz, gewidmet haben, unvergleichlich ist.
Wie nie zuvor in der Zeit nach den NS-Verbrechen wird in Deutschland darüber nachgedacht und gestritten, wie wir uns als Land und Gesellschaft dieser Zeit erinnern sollen. Es ist unbestritten, dass sich Deutschland damit schwergetan hat, mit der präzedenzlosen Schande einen Umgang zu finden. Es hat Jahrzehnte gebraucht, bis Stiftungen und Museen, Politiker und Regierungen sich des Themas angenommen haben und über Gedenkstätten- und Museumsarbeit sowohl die Aufklärung als auch die Aufarbeitung vorangetrieben haben.
Zwischenzeitlich waren wir sogar stolz, "Weltmeister in Erinnerung" zu sein. Das waren wir nie – und wir sehen immer deutlicher, dass es nicht reicht, einmal im Jahr betroffen einen Kranz niederzulegen oder staatstragende Reden zu halten. Wir müssen uns eingestehen, dass diese Gesten allein uns nur für den Moment entlastet haben, jedoch gesellschaftlich nicht den Effekt brachten, der vielleicht wohlwollend beabsichtigt war.
Relativierung des Holocaust als zentrales Symbol der Querdenker-Bewegung
Der "Erfolg" von Erinnerungskultur muss sich vor allem auch daran messen lassen, wie präsent Antisemitismus in unserer Gesellschaft ist. Seit 2017 hat dieser mit der AfD-Fraktion wieder seinen rechten Platz im Bundestag eingenommen und in der Pandemie sehen wir deutlich, wie Querdenker und Verschwörungsideologen die Relativierung des Holocaust zu einem zentralen Symbol ihrer Bewegung gemacht haben.
Diese offene Trivialisierung der Schoa irritiert uns, zeigt sie doch, dass wir überhaupt nicht weit gekommen sind. Ich kann mir kaum vorstellen, wie schwer es für Schoa-Überlebende und ihre Nachfahren sein muss, diese neuen, aber inzwischen schon alltäglichen Zustände zu beobachten.
Für diejenigen von uns, die sich um unsere Erinnerungskultur kümmern, gibt es jetzt die Möglichkeit, Erinnerung umzudenken, sie an das 21. Jahrhundert anzupassen und weiterzuentwickeln. Was bedeutet das konkret? Einige sich wiederholende Muster wie zu kurz gedachte Forderungen von Pflichtbesuchen von Gedenkstätten, helfen nicht wirklich weiter. Wenn man die Experten aus der Gedenkstättenarbeit fragt, sind verpflichtende Besuche nicht ihre erste Empfehlung. Erst recht nicht, wenn sie wie so oft stigmatisierend nur für Migranten und Geflüchtete gefordert werden.
Aber auch Debatten bezogen auf die Singularität beziehungsweise Unvergleichlichkeit des Holocaust haben bisher nicht die gewünschte Wirkung gezeigt. Mit der immer größeren Debatte um deutsche Verbrechen im Kolonialismus zeichnet sich hier auch ein Paradigmenwechsel ab, der in der Erinnerungskultur zwei Fronten schafft:
Die Menschheitsverbrechen des 20. Jahrhunderts betrachten
Betrachten wir die Menschheitsverbrechen des 20. Jahrhunderts zusammenhängend oder halten wir an der Einzigartigkeit und Unvergleichbarkeit der Schoa fest? Müssen beide Herangehensweisen wirklich in einem Widerspruch zueinander stehen? Wie also können wir die Menschheitsverbrechen des 20. Jahrhunderts - ihren inhumanen Ausmaßen entsprechend - betrachten, ohne sie zueinander in Konkurrenz zu setzen?
[Lesen Sie auch diesen Artikel von Christoph David Piorkowski auf Tagesspiegel Plus über den Holocaust und die Kolonialverbrechen]
Auf jeden Fall müssen wir uns darüber Gedanken machen, wie es dazu kommen konnte, dass heute Menschen mit gelbem Judenstern auf der Brust oder am Oberarm besorgt durch Deutschlands Straßen „spazieren“ gehen und ihre Situation mit der von Opfern eines Genozids vergleichen.
Für mich drängt sich die Frage auf, ob die Erinnerungskultur nicht pluralistisch erweitert werden muss. Wenn wir uns dieser Aufgabe nicht stellen, laufen wir Gefahr, das kollektive Gedenken an den Holocaust, das die gesamte Gesellschaft mitnimmt, zu verlieren.
Als Pädagoge in Kreuzberg mache ich häufig die Erfahrung, dass Kinder und Jugendliche unterschiedlichster Herkünfte oft auch das Bedürfnis haben, eigene Traumata zu thematisieren. Nicht wenige von ihnen haben Flucht- oder Gewalterfahrungen, die kein "deutsches" Kind mit sich herumträgt.
Identifikation und die sich daraus ergebende Verantwortung
Und immer, wenn ich hierfür genügend Raum schaffe, vereinfacht es das Behandeln vom Holocaust und führt von sich aus zur Feststellung der Einzigartigkeit dieses Verbrechens. Die Bilanz ist Identifikation und eine sich daraus ergebende Verantwortung. Das "Nie Wieder!" wird greifbar.
Als Jugendlicher habe ich die Bedeutung von Erinnerungskultur in einem bestimmten historischen Ereignis besonders klar erkannt. 1993 hat sich Elie Wiesel in einer emotionalen Rede an den damaligen US-Präsidenten gewandt: Aus seiner Erfahrung als Holocaustüberlebender hat er von ihm gefordert, das Blutvergießen in Bosnien zu beenden, dort endlich einzugreifen.
Aus seiner Biografie heraus hat er aus der Vergangenheit eine direkte Handlungsaufforderung, ja eine Verpflichtung, abgeleitet. Ob er hier die Situation in Bosnien mit dem Holocaust verglichen hat, war für mich nicht der entscheidende Punkt. Seine Haltung – "indifference is a sin" (Gleichgültigkeit ist eine Sünde) – und sein Engagement haben mich berührt. Und wenn ich mich heute gegen Holocausttrivialisierungen und Antisemitismus ausspreche, dann hat Elie Wiesel einen großen Anteil daran.
Dervis Hizarci