Krise der Universitätsmedizin in Berlin: Führung der Charité massiv unter Druck
Der Streit über die fragwürdig verbuchten Forschungsmittel bedroht den gesamten Vorstand. Berlins Finanzsenator Ulrich Nußbaum kann das recht sein.
Alles begann im vergangenen September mit einem weiteren Konflikt zwischen der medizinischen Fakultät und der Klinikleitung der Charité – nämlich mit einem Streit darüber, ob zehn Millionen Euro aus Drittmitteln der Fakultät in den Haushalt überführt werden sollen oder nicht. Inzwischen hat sich aus der Schneeballschlacht in der Leitung eine Lawine entwickelt, die den ganzen Vorstand von Europas größten Klinikum mitreißen könnte. Am Montag, wenn der Aufsichtsrat der Charité zu seiner Sondersitzung über die Krise zusammentritt, könnten „Köpfe rollen“, ist von mehreren Insidern zu hören. Als sicher gilt, dass der Aufsichtsrat empfehlen wird, den bereits suspendierten kaufmännischen Leiter der Fakultät zu entlassen. Aber auch die Dekanin der Fakultät, Annette Grüters-Kieslich, müsse um ihr Amt fürchten, gefährdet seien auch der Finanzvorstand Matthias Scheller und der Vorstandsvorsitzende Karl Max Einhäupl. Mehrere der zehn Aufsichtsratsmitglieder verlangten neue Führungsfiguren, ist zu hören, besonders aber Berlins Finanzsenator Ulrich Nußbaum.
Einwände gegen Nußbaum
Nußbaum wollte sich am Donnerstag auf Anfrage nicht äußern. Die Wahrnehmung der Insider würde jedoch zu Nußbaums politischer Strategie passen, bei der Führung der Landesunternehmen auf Finanzprofis zu setzen. Ein Charité-Professor vermutet, Nußbaum wolle die Charité ausschließlich an wirtschaftlichen Interessen ausrichten, die „Wissensvermehrung“ und die Ausbildung der Ärzte würden dann schwer beschädigt werden: „Die Bürger Berlins haben hier wirklich was zu verlieren.“ Grüters-Kieslich und Einhäupl hatten beim Berliner Senat immer wieder auf mehr Autonomie für die Universitätsmedizin gedrängt – zum Missfallen der Sparpolitiker.
Wenn es um die Charité-Leitung geht, könnte Nußbaum den Streit zwischen Grüters-Kieslich und Einhäupl sowie die aktuelle Aufregung über vermeintlich versteckte Kassen an der Charité nutzen: Die Staatsanwaltschaft ermittelt gegen Einhäupl und Grüters-Kieslich „wegen Vorwurf des Bilanzbetrugs“, wie schon länger bekannt ist. Bundesweit steht die Charité inzwischen so da, als gebe es dort skandalöse Zustände im Finanzwesen. Haushälter im Bundestag prangerten die Charité für ihre „schwarzen Kassen“ an. Eine Debatte entbrannte darüber, ob die für die Unis so wichtigen „Overhead“-Mittel wegen des angeblich dubiosen Umgangs der Charité damit nun in ihrer Existenz gefährdet seien.
Würde der Finanzsenator, der mit im Aufsichtsrat sitzt, personelle Konsequenzen ziehen wollen – es erschiene auf den ersten Blick nur folgerichtig. Sind die Vorgänge an der Charité aber wirklich so dramatisch, wie sie dargestellt werden? Am Montag im Aufsichtsrat wird es dem Vernehmen nach vor allem um die in die Kritik geratene Bilanzierung von „Overhead“-Mitteln gehen sowie um einen Beratervertrag, den die Dekanin Grüters-Kieslich mit einer Architektin abgeschlossen hat – von dem jedoch der gesamte Vorstand wusste. Grundlage sind die Berichte des Wirtschaftsprüfungsunternehmens Rödl und Partner, die Entwürfe liegen dem Tagesspiegel vor.
Nach Meinung vieler Fakultätsmitglieder ist auffällig, dass die Dekanin Grüters-Kieslich von den Wirtschaftsprüfern besonders überprüft und kritisiert wird, obwohl sie jedenfalls nicht allein für die Verbuchung der Finanzen zuständig ist – wenn überhaupt, was umstritten ist. Insgesamt werde maßlos und unfair mit der Dekanin umgegangen, heißt es.
Alle Mittel korrekt verbucht - warum die Aufregung?
Jedenfalls sind alle Mittel, um die sich die Debatte dreht, korrekt verwendet worden. Nach genauer Überprüfung der Drittelmittelverwaltung stellen die sehr kritischen Wirtschaftsprüfer fest, dass eine „Mittelfehlverwendung“ „nicht festgestellt werden“ kann.
Im Kern geht es aber um die Frage, ob die Fakultät von ihr gesparte Overhead-Mittel korrekt verbucht hat – oder ob versucht wurde, die Existenz der Reserve von 34 Millionen Euro vor dem Vorstand und dem Aufsichtsrat zu verschleiern. Overhead-Mittel werden eingespielt, wenn die Fakultät Projekte aus Drittmitteln einwirbt, von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG), dem Bundesforschungsministerium oder aus der Industrie. Sie sollen die Folgekosten von Forschungsprojekten auffangen: in der Verwaltung, bei der Miete von Laborräumen oder bei der Energie. Die Overhead-Mittel der DFG, die im Jahr 2007 eingeführt wurden, können sehr flexibel eingesetzt und auch gespart werden – solange sie der Forschung helfen. Jedes Jahr wirbt die Fakultät der Charité 150 Millionen Euro an Drittmitteln ein.
Die Wirtschaftsprüfer der Charité haben jahrelang keinen Anstoß daran genommen, wie angesparte Overhead-Mittel verbucht wurden, auch nicht das Unternehmen Rödl und Partner, das den Jahresabschluss der Charité bereits im Jahr 2012 prüfte. Zu hören ist immer wieder, auch andere medizinische Fakultäten würden den gesparten Overhead so verbuchen, wie es an der Charité üblich war. Rödl und Partner interessierten sich erst bei der Prüfung des Jahresabschlusses von 2013 für den Overhead – weil Medienberichte sie auf „Differenzen“ im Vorstand der Charité über deren Verteilung aufmerksam gemacht hätten, wie die Prüfer schreiben.
Vorgelagerter Konflikt um Overhead-Mittel
Tatsächlich hatte es im September 2013 einen Konflikt um die Verwendung der Overhead-Mittel gegeben. Matthias Scheller, im Vorstand zuständig für Finanzen, brachte eine Vorlage in die Vorstandssitzung ein, wonach zehn Millionen Euro aus dem Overhead in den Haushalt der Charité abfließen sollten, „um die wirtschaftliche Situation der Charité zu stärken“. Dagegen wehrte sich der Fakultätsrat vehement, der befürchtete, dann Mittel für die Forschung an die Krankenversorgung zu verlieren, wie ein Mitglied berichtet. Das wäre eine Zweckentfremdung des Overheads gewesen. Zu diesem Transfer kam es dann nicht. Der Vorgang wurde von den Wirtschaftsprüfern nicht weiter beachtet.
Diese kritisieren vielmehr die Fakultät. Sie hätte ihre gesparten Overhead-Mittel nicht als „Verbindlichkeiten“ verbuchen dürfen, also als zweckgebundene Mittel. Vielmehr hätten sie als „Gewinne“ ausgewiesen werden müssen, damit sie allen Vorstandsmitgliedern und dem Geschäftsbereichsleiter Finanzen bekannt werden können. Die Fakultät habe die Ersparnisse „verstecken“ wollen, denn: „Es gibt kein ausreichendes Vertrauen gegenüber der Krankenversorgung, dass diese nicht auf die Mittel ,zugreift’“, meinen die Prüfer. Die Wahrnehmung, Reserven seien von der Fakultät absichtlich im Nebel gehalten worden, wird von Mitgliedern der Fakultät energisch zurückgewiesen: „Das Geld war für jeden nachvollziehbar gekennzeichnet“, sagt einer. „Allerdings haben wir auch kein Schild hochgehalten.“
Eine Frage der Zuständigkeit
Hätte die Fakultät ein solches Schild hochhalten müssen? Oder hätten der Aufsichtsrat und der Vorstand die Zahlen auch so richtig lesen und nachfragen können? Die DFG verweist auf unterschiedliche Landesregelungen für das Ausweisen der Mittel. Sie versuche aber, „eine Harmonisierung auf den Weg zu bringen“. Ein Charité-Professor sagt, für die noch junge Einrichtung des DFG-Overhead gebe es haushälterisch noch gar keine klaren Grundlagen, gleichwohl werde die Frage wie gebucht werden soll, nun aufgeblasen. Die Dekanin Annette Grüters-Kieslich, die von den Wirtschaftsprüfern für das „Verstecken“ der Mittel vor allem verantwortlich gemacht wird, will sich dazu nicht äußern. Doch inzwischen kursiert ein Schreiben von ihr an die Wirtschaftsprüfer. Darin beruft sich die Dekanin darauf, dass renommierte „Branchenführer“ wie KPMG und PwC den an der Charité „und vielerorts“ gewählten buchhalterischen Weg keineswegs beanstanden.
Dass überschüssige Overhead-Mittel als Verbindlichkeiten abgerechnet werden, sei ohnehin auch schon vor Grüters-Kieslichs Amtsantritt im Jahr 2008 üblich gewesen, heißt es aus der Charité. Die Dekanin habe also eine bereits bestehende Praxis übernommen. Vor 2008 handelte es sich dabei vor allem um Mittel aus der EU und aus der Industrie.
Dekanin in der Pflicht
Die Wirtschaftsprüfer sehen die Dekanin aber in der Pflicht. Dabei berufen sie sich auf das Berliner Unimed-Gesetz, das ihr die Verantwortlichkeit für den Teilhaushalt Forschung und Lehre überträgt.
An der Charité ist die Praxis aber eine andere. Der Geschäftsverteilungsplan erklärt den Direktor des Klinikums für die Finanzen zuständig, auch für die Buchhaltung. Der Aufsichtsrat hat diesem Geschäftsverteilungsplan zugestimmt. Grüters-Kieslich schreibt entsprechend: „Es gibt nur eine Buchhaltung der Charité im Geschäftsbereich Finanzen und Einkauf (…) Der erweckte Eindruck, die Fakultät habe eine eigene Buchhaltung neben dem Hauptbuch ist unwahr.“
So sieht es auch Walter Rosenthal, der scheidende Chef des Max-Delbrück-Centrums und Mitglied im Fakultätsrat. Er hält die Vorwürfe gegen Grüters-Kieslich daher für „komplett unfair“: „Für die Buchung, Bilanzierung und den Jahresabschluss von Drittmitteln und Overhead-Mitteln ist die Dekanin nicht verantwortlich. Diese Verantwortung liegt im Bereich von Klinikdirektor Scheller.“ Rosenthal sagt, die Dekanin verwalte die Forschungsmittel indes inhaltlich, und hier habe Grüters-Kieslich „sehr vernünftig“ gehandelt, Overhead-Mittel für Berufungen und Investitionen ansparen zu wollen: „Das ist eine überall gängige Praxis.“ Der Streit um die Charité-Overhead-Mittel sei hier geradezu kontraproduktiv: „Das ist eine gefundenes Fressen für alle Landespolitiker, weiter an der Sparschraube zu drehen.“
Angst vor Entmündigung
Im Charité-Fakultätsrat wird jetzt befürchtet, künftig könnte die Fakultät komplett „entmündigt“ werden, wenn es um die Verwendung von Forschungsgeld gehe. Die Forschungsmittel würden wohl bald umgelenkt, um absehbare Mehrkosten für das Bettenhaus decken zu können, wird geargwohnt. Der Fakultätsrat selbst stehe hinter Grüters-Kieslich. Viele Mitglieder seien zwar über die Höhe der angesammelten Overhead-Mittel überrascht gewesen – aber durchaus im positiven Sinn: „Da wurde ja viel vorausschauender gedacht als sonst an der Charité üblich.“