Zulauf für den "Islamischen Staat": „Es beginnt mit einer Identitätskrise“
Der Londoner Terrorexperte Peter Neumann erforscht, warum junge muslimische Frauen und Männer aus dem Westen in den Dschihad ziehen.
Herr Neumann, wie verfolgen Sie und Ihre Mitarbeiter Radikalisierungsprozesse?
Viele Ausreisewillige posten in den sozialen Medien über sich und führen Debatten. Dabei beobachten wir sie. Wenn sie im Ausland sind, schreiben sie weiter. Wir haben einen Datensatz mit 550 westlichen Kämpfern aufgebaut. Zweimal haben wir an der syrischen Grenze einige persönlich getroffen.
Wie läuft ein typischer Radikalisierungsprozess ab?
Es beginnt mit einer Lebens- und Identitätskrise. Viele jugendliche Migranten fühlen sich zwischen den Kulturen hin- und hergerissen. Es können aber auch persönliche Enttäuschungen den Ausschlag geben. In so einer Situation ist man offen für neue Ideen, Lebensmodelle und Ideologien. Meistens läuft die Radikalisierung dann über Freunde.
Nicht im Internet?
Die persönlichen Kontakte stehen im Vordergrund. Meistens wandern ganze Gruppen von zehn bis zwanzig Leuten aus. Es fängt mit einem oder zwei an. Irgendwann ist der Gruppendruck so stark, dass alle gehen. Wenn die Radikalisierung mehr übers Internet laufen würde, wäre die Verteilung gleichmäßiger.
Die zur Größe der Bevölkerung proportional höchste Zahl an Kämpfern kommt aus Belgien. Warum Belgien?
In Flandern gab es die Gruppe „Sharia for Belgium“. Sie war in drei kleinen Orten aktiv. Aus diesen drei Orten kommen 70 Prozent der belgischen Auslandskämpfer. Es ist eben nicht einfach, bei den Dschihadisten in Syrien und im Irak akzeptiert zu werden. Es hilft, wenn Freunde dort ein gutes Wort einlegen können.
Wodurch unterscheiden sich diese Orte von anderen?
Dafür gibt es keine gute Erklärung. Es liegt nicht an der politischen Situation oder an sozialen Problemen. Die gibt es so auch woanders, wo keine dschihadistischen Zirkel entstanden sind.
Warum zieht es Frauen nach Syrien?
Bei extremistischen Youtube-Kanälen sind Frauen zur Hälfte beteiligt
Das ist etwas Neues in der dschihadistischen Bewegung. Vor zehn Jahren kamen Frauen nur in die Szene hinein, wenn sie schon mit Dschihadisten verheiratet waren. Dass sich jetzt Mädchen und Frauen aus dem blauen Himmel heraus beteiligen, hat mit dem Internet zu tun. Über’s Internet können sie sich in die Szene einleben, ohne mit jemandem von Angesicht zu Angesicht kommunizieren zu müssen. Bei extremistischen Youtube-Kanälen beteiligen sich zur Hälfte Frauen.
Warum ist der Dschihadismus attraktiv für Mädchen?
Das scheint eine romantische Faszination zu sein. Sie hat etwas mit dem rauen Charme der Krieger zu tun. Aber auch der Hipster-Dschihadi ist sehr populär. Dass das alles verboten ist, macht es noch spannender. Also vielleicht Justin Bieber plus Verbot.
Erfüllen sich die Träume?
Schwer zu sagen. Die Frauen schreiben nicht so viel, vieles wird schnell wieder gelöscht. Aber es gibt Dokumentationen, in denen ausgereiste Mädchen und Frauen sagen, dass sie ganz glücklich sind. Dass sie gefunden haben, wonach sie suchten.
Welche Rolle spielen die Moscheen bei der Rekrutierung?
Es gibt einige radikale Moscheen, die offensiv werben. Aber in 95 Prozent der Moscheen wird nicht radikalisiert. Diese Moscheen machen den jungen Leuten aber auch keine anderen attraktiven Angebote. Neulich sagte ein anderer Wissenschaftler: Der einzige wirklich deutsche Islam ist der von Pierre Vogel und seinen Salafisten. In vielen Moscheen dominiert die erste Einwanderergeneration. Doch die Lebenswirklichkeit von 60-, 70-jährigen Männern hat nichts zu tun mit der Welt der 16-, 17-Jährigen in Neukölln. Die werden mit ihren Krisen alleine gelassen. Pierre Vogel hat Antworten: Alles ist entweder schwarz oder weiß, gut oder böse. Folge den Regeln, dann kommst du ins Paradies. Das wirkt.
Die meisten Mitarbeiter in Moscheen arbeiten ehrenamtlich. Sie bekommen kein staatliches Geld für Jugendarbeit.
Das liegt auch daran, dass die Verbände falsche Prioritäten gesetzt haben. Das ganze politische Kapital wurde im Streit um den Religionsunterrichts an den Schulen eingesetzt. Jetzt geht eine ganze Generation verloren.
Ist der Salafismus eine Jugendbewegung, wie es die RAF in den 1970ern war?
Salafismus ist Rebellion und Gegenkultur. Früher wären diese jungen Leute vielleicht Hippies geworden oder in die APO gegangen. Heute werden sie Salafist, wenn sie Eltern und Lehrer schocken wollen. Viele Konvertiten könnten auch Nazis werden oder Hooligans. Oft ist halt der Salafismus das Erste, was ihnen begegnet. Es gibt auch Salafisten, die danach Neonazis wurden.
Warum ist Gewalt so attraktiv, dass junge Leute den eigenen Tod in Kauf nehmen?
Der Wunsch, Märtyrer zu werden, ist geschichtlich betrachtet nichts Besonderes. Für Gott oder die Nation zu sterben und dafür im Himmel belohnt zu werden, das ist auch in der westlichen Kultur seit 2000 Jahren eine positiv besetzte Sache. Wir denken erst seit 70 Jahren anders. Wir sind die Ausnahme von der Norm.
Ein Teil der Kämpfer aus dem Westen würde gerne zurückkehren
Aber ist es für Jugendliche, die heute hier im Westen aufwachsen, nicht verstörend, mit solcher Brutalität konfrontiert zu werden?
Das passiert ja auch. Viele sind schockiert und traumatisiert, weil sie sich das so doch nicht vorgestellt haben. Es gibt aber auch die anderen, die sich das genau so wünschen und Lust auf Gewalt haben.
Berliner Polizisten sagen, Hinrichtungsvideos anzuschauen ist mittlerweile Teil der Popkultur. Verroht da eine ganze Generation?
Das ist zu befürchten.
Hat sich die Motivation, nach Syrien zu gehen, verändert?
In den Jahren 2012/2013 wollten viele die Sunniten im Kampf gegen den Diktator Assad unterstützen und verteidigen. Wer jetzt geht, will das Kalifat aufbauen und bei einem historischen Projekt mitmachen. Die Aussicht ist für sie aufregend, dass man über sie vielleicht in 1000 Jahren noch schreiben wird. Das hat ihnen die Propaganda des „Islamischen Staates“ eingeredet. Da heißt es auch: Kommt, es gibt für jeden etwas zu tun. Wer nicht kämpfen will, kann Kinder gebären, in der Verwaltung helfen oder bei der Lebensmittelkontrolle. Vor einem Monat hat der IS seine Strategie geändert. Jetzt heißt es: Bleibt, wo ihr seid und bringt die Leute dort um – als Vergeltung für die Angriffe des Westens. Seitdem gab es Enthauptungsversuche in Australien, Kanada und in der Schweiz.
Haben Sie Kontakt zu Aussteigern?
Nein. Aber es haben sich Leute an uns gewandt, die noch dort sind und zurückkehren möchten. Sie sind desillusioniert und frustriert. Ich schätze, dass mindestens 20 Prozent der Kämpfer gerne zurückkehren würden, aber ohne dass sie hier zu Terroristen gestempelt werden. Für sie müsste es Angebote geben, wie sie sich re-integrieren können.
Haben Sie Kontakt zu Rückkehrern?
Nein, die meisten schließen ihre Facebook-Konten, wenn sie wieder da sind.
Wie nehmen Sie die Unterschiede im Umgang mit dem Phänomen in Deutschland und England wahr?
In Deutschland ist Hitler durch eine Wahl an die Macht gekommen. Aus dieser Erfahrung gilt hier: Wehret den Anfängen! Alle Extremisten sind schlecht, ob sie gewaltbereit sind oder nicht. Deshalb gelten hier auch alle Salafisten als etwas ganz Schlimmes. In England haben die Salafisten auch ein schlechtes Image. Aber die Toleranz für extremes Gedankengut ist größer, solange es nicht in Gewalt ausartet. Aber England nähert sich da der deutschen Kultur an.
Wird sich parallel zur dschihadistischen Bewegung die Hooligan-Szene radikalisieren?
In England hat man die Erfahrung gemacht, dass sich das gegenseitig hochschaukelt. Aber das liegt auch daran, dass viele Städte, gerade im Norden Englands, sehr segregiert sind. Die deutschen „Hooligans gegen Salafisten“ (HoGeSa) sind eine Kopie der „English Defence League“. Sie verfolgen dieselbe Strategie zum Teil bis in die Plakate hinein. Die Anführer der HoGeSa haben auch direkte Kontakte zu den englischen Hooligans.
Das Gespräch führte Claudia Keller.