Brexit und die Folgen: Erasmus nach Großbritannien – wie lange noch?
Großbritannien gehört zu den beliebtesten Austauschländern für Studierende, auch für Deutsche. Doch wie es mit dem Erasmus-Programm nach dem Brexit weitergeht, ist unsicher.
Gilt mein Stipendium für Großbritannien weiter? Das ist eine der Fragen, die Kornelia Röhr in den letzten Wochen häufiger beantworten musste. Röhr betreut an der Berliner Hochschule für Technik und Wirtschaft (HTW) die Studierenden, die mit dem Erasmus-Programm zum Austausch ins EU-Ausland gehen. Nach dem Brexit-Referendum kamen Englandfahrer verunsichert in ihr Büro: „Sie wollten wissen, ob das Programm für Großbritannien weitergeht“, sagt Röhr. Andere sorgten sich, dass sie in Großbritannien nicht mehr erwünscht sein könnten.
Auch der Deutsche Akademische Austauschdienst (DAAD) berichtet über Anrufe künftiger Stipendiaten. Diese wollten unter anderem wissen, ob ihre Studienleistungen wie abgesprochen anerkannt werden.
Das Erasmus-Austauschprogramm ist eine der größten Erfolgsgeschichten der EU: Mehr als drei Millionen Studierende sind damit für ein oder zwei Semester an eine Uni in einem anderen EU-Land gewechselt, seit das Programm 1987 startete. Kaum ein anderes EU-Projekt – ironischerweise initiiert durch einen Engländer – dürfte so viel für den europäischen Gedanken getan haben. Es soll sogar eine Million binationale „Erasmus-Babys“ geben: Die Kinder der Paare, die sich in ihrem Austauschjahr kennenlernten. Das verkündete die EU-Kommission stolz, als sie vor einiger Zeit eine Studie über den Wert des Auslandsjahres präsentierte.
Großbritannien ist wichtiger Partner bei Erasmus
Doch nach dem Brexit-Votum steht auch Erasmus vor einer ungewissen Zukunft – zumindest was die Teilnahme Großbritanniens angeht. Erasmus muss wie die Beziehungen Großbritanniens zur EU insgesamt neu verhandelt werden. Es geht um einen wichtigen Partner: Großbritannien ist nach Spanien, Deutschland und Frankreich das viertbeliebteste Ziel junger Studierender in Europa. 27 500 gehen jährlich an britische Unis, mehr als 4000 davon aus Deutschland, unterstützt durch Stipendien in der Höhe von mehreren hundert Euro.
Erasmus ist umso attraktiver, weil Teilnehmer keine Studiengebühren zahlen müssen – in Großbritannien, wo Unis bis zu 9000 Pfund (10 600 Euro) im Jahr nehmen, ein unschätzbarer Vorteil. Diejenigen, die zum Wintersemester nach Großbritannien aufbrechen, erhalten vom DAAD und den Hochschulen beruhigende Nachrichten: Für das Studienjahr 2016/17 ändert sich nichts. Noch ist Großbritannien ja Mitglied der EU. „Dieser Jahrgang muss sich keine Sorgen machen, die bestehenden Verträge gelten“, sagt etwa Carola Beckmeier, die Direktorin des Auslandsamtes der Technischen Universität. Abgesagt hat den Berliner Unis bisher kein Studierender, heißt es übereinstimmend. „Die sind alle froh, dass sie jetzt noch dabei sind“, heißt es aus dem Großbritannienzentrum der Humboldt-Universität, wo für Masterstudierende ein Aufenthalt in Großbritannien Pflicht ist.
2016/17 ändert sich nichts - danach wird es unsicher
Nun braucht die Planung eines Austauschjahres einen Vorlauf, in der Regel ein Jahr. Bis Dezember müssen sich die Studierenden bewerben, die zum Wintersemester 2017 ins Ausland wollen. Diese Kohorte bleibt dann bis ins Jahr 2018 hinein in Großbritannien – und könnte bereits vom Brexit betroffen sein, sollten die Austrittsverhandlungen schnell abgeschlossen werden. Daher sind die Perspektiven für den Jahrgang 17/18 schon etwas unsicherer. „Wir müssen einfach abwarten, noch ist ja nichts passiert“, sagt TU-Auslandsamtleiterin Beckmeier.
Die Freie Universität hält einen EU-Austritt bereits 2018 zwar für „unwahrscheinlich“. Sollte es aber so weit kommen, geht sie von einem Vertrauensschutz für Austauschstudierende aus, teilt Sprecher Goran Krstin mit. Danach werde es hoffentlich eine Nach-Brexit-Lösung geben. Kornelia Röhr von der HTW fordert die Politik auf, sich frühzeitig um Übergangslösungen zu kümmern: „Wir können den Studierenden doch nicht von heute auf morgen sagen: Sorry, ihr könnt jetzt doch nicht gehen.“
Die britischen Unis fahren erst mal auf Sicht, wie Ruth Sinclair-Jones, die Direktorin der britischen Erasmus-Agentur, dem „Guardian“ sagte: „Wir werden bis 2017 so weitermachen wie bisher. Für die Zeit danach müssen wir warten.“ Entscheiden wird sich das Schicksal von Erasmus an der Frage der Personenfreizügigkeit. Länder, die sich dabei an die EU-Vorgaben halten, dürfen an Erasmus auch ohne EU-Mitgliedschaft partizipieren, wie derzeit etwa Island und Norwegen. Sollten die Briten bei den bestehenden Regeln bleiben, stehen ihre Chancen auf einen Erasmus-Verbleib gut.
Die Schweiz wurde 2014 aus Erasmus ausgeschlossen
Die Ablehnung der Personenfreizügigkeit war aber ein zentrales Motiv für das Brexit-Votum. Beharren die Briten darauf, Hürden für EU-Bürger aufzubauen, dürften sie aus Erasmus ausgeschlossen werden. So erging es der Schweiz, nachdem sie 2014 per Volksabstimmung den Zuzug von Ausländern einschränkte. Die Schweiz nahm damals eigene Mittel in die Hand, um Erasmus zu ersetzen und den Studierendenaustausch fortzusetzen.
Beobachter halten das in Großbritannien für ausgeschlossen: Dass die Regierung nach dem EU-Austritt ausgerechnet den Zuzug von Ausländern finanziell fördert (selbst wenn es sich nur um einen Aufenthalt von einem Jahr handelt), wäre politisch nicht vermittelbar, heißt es.
Die Berliner Hochschulen hoffen, dass es gar nicht erst so weit kommt. „Wir wollen auf Großbritannien als Partnerland jedenfalls nicht verzichten“, sagt Beckmeier. An allen Hochschulen gehören die britischen Unis zu den nachgefragtesten, die Zahl der Bewerber übersteigt oft die der Plätze. Die TU und die HTW schicken pro Jahr rund 20 Studierende via Erasmus nach Großbritannien, die FU rund 90, die HU in diesem Jahr 140.
Die Kooperation mit den Briten ist schwierig
Allerdings gestaltete sich die Zusammenarbeit mit britischen Hochschulen schon in den vergangenen Jahren zunehmend zäher, wie die TU und die HTW berichten. Für die britischen Unis sei Erasmus unattraktiv geworden, da sie sich vorrangig durch Studiengebühren finanzieren müssen, sagt TU-Auslandsamtsdirektorin Beckmeier. Den Erasmus-Studierenden werden die Gebühren ja erlassen, die Unis verlieren diese Einnahmen also. „Die Unis sagen: Zahlende Gäste gerne, die anderen bitte nicht.“ Insbesondere Topunis wie Oxford, Cambridge oder das für die TU interessante Imperial College als Austauschpartner zu gewinnen, sei sehr schwierig.
Cornelia Marx aus dem Internationalen Büro der HU kann diesen Eindruck allerdings nicht so recht nachvollziehen: „Ganz so schlimm ist es bei uns nicht.“ Die HU konnte in den vergangenen Jahren neue Partnerschaften abschließen, auch Oxford und Cambridge gehören zu den HU-Partnerunis.
Junge Briten gehen nicht so gern ins Ausland
Gibt es neue Hürden beim Austausch, werden sie die EU-Studierenden letztlich mehr treffen als die britischen. Denn europaweit ist der Trend eindeutig: Es zieht fast doppelt so viele EU-Studierende nach Großbritannien, als umgekehrt Briten ein Austauschjahr woanders absolvieren. „Junge Briten scheuen sich nicht selten rauszugehen, gerade wenn es sich um ein nicht englischsprachiges Land handelt“, sagt Georg Krawietz, Leiter des DAAD-Büros in London.
Manchmal liegt das daran, dass sich Studierende schon mit Studienbeginn festlegen müssen, ob sie einen Austausch machen wollen. Neben mangelnden Fremdsprachenkenntnissen sind auch die Studiengebühren verantwortlich, sagt Krawietz: „Nach drei Jahren Bachelorstudium hat man in der Regel schon knapp 30 000 Pfund an Schulden zu schultern. Viele suchen daher zügig den Weg in den Beruf, um diese baldmöglichst wieder abzahlen zu können.“
Wie könnte es weitergehen, sollte Großbritannien tatsächlich aus Erasmus ausgeschlossen werden? Carola Beckmeier befürchtet, dass die Partnerunis dann langfristig verschwinden. „Oder sie können nur noch für Selbstzahler angeboten werden.“ Das würde bedeuten, dass Großbritannien wegen der Studiengebühren für viele unerschwinglich wird. Beckmeier hofft daher, dass der DAAD dann ein Sonderprogramm für Großbritannien auflegt, um einen etwaigen Verlust von Erasmus zu kompensieren.
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