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Das Erasmus-Programm wird 2017 30 Jahre alt.
© AFP

EU-Bildungskommissar Tibor Navracsics im Interview: „Erasmus gehört zum Herzen der europäischen Identiät“

30 Jahre Erasmus-Programm: EU-Bildungskommissar Tibor Navracsics spricht im Interview über Chancen für Studierende – und Probleme durch die Türkei und Brexit.

Erasmus feiert sein 30-jähriges Jubiläum. Wie wichtig ist das Studierendenaustauschprogramm in Zeiten, in denen die europäische Idee stark unter Druck steht?

Für die europäische Integration ist Erasmus sehr wichtig, und es ist sehr erfolgreich. Laut Eurobarometer sagen europäische Bürgerinnen und Bürger, dass Erasmus zu den fünf wichtigsten EU-Errungenschaften gehört. Das Geheimnis des Erfolgs ist natürlich, dass es um junge Menschen geht, ihnen neue Perspektiven eröffnet. Und dank Erasmus wird eine europäische Identität entwickelt, die nicht im Gegensatz zu einer nationalen oder regionalen Identität steht, sondern komplementär dazu. Freundschaften, Netzwerke, gute Erinnerungen, die entstehen, weil man Europäer ist – all das verbindet sich mit Erasmus.

Sie haben zwischen 1997 und 2001 an einer Universität in Budapest gelehrt. Welche Rolle spielte Erasmus damals für Ihre Studierenden, gerade für ein Land, das an der Schwelle zum EU-Beitritt stand?

Als Hochschullehrer habe ich viele Erasmus-Studierende an meiner Uni getroffen, die aus westeuropäischen Ländern nach Ungarn kamen, an den politischen Entwicklungen in Zentraleuropa interessiert waren. Das war auch für mich wichtig, mit ihnen Ideen auszutauschen, ihre Ansichten über unsere Region zu erfahren. Erasmus kann die europäische Gemeinschaft vergrößern, bevor Länder tatsächlich institutionell der EU beitreten. Das war nicht nur bei den zentraleuropäischen Staaten so, auch heute gehören Länder zur Erasmus-Region, die keine EU-Mitglieder sind.

Nun werden diese Ideale, für die Erasmus steht – wie ein vereintes Europa, interkultureller Austausch, offene Grenzen –, aber immer mehr angegriffen. Auch von der ungarischen Regierung, der Sie selbst angehört haben. Widerspricht sich das nicht?

Ich glaube nicht. Es mag eine große Skepsis gegenüber europäischer Solidarität und europäischen Werten geben, aber die Europäische Kommission kann auch einiges gegen diese Skepsis machen. Erasmus kann dabei sehr helfen.

EU-Bildungskommissar Tibor Navracsics (50) ist seit 2014 EU-Kommissar für Bildung, Kultur, Jugend und Sport. Zuvor war er Justizminister in Ungarn und zeitweise auch stellvertretender Ministerpräsident.
EU-Bildungskommissar Tibor Navracsics (50) ist seit 2014 EU-Kommissar für Bildung, Kultur, Jugend und Sport. Zuvor war er Justizminister in Ungarn und zeitweise auch stellvertretender Ministerpräsident.
© EU/ Georges Boulougouris

Es gibt eine Schieflage: Süd- und Westeuropa und Skandinavien sind sehr beliebt bei Erasmus-Studierenden, Osteuropa weniger. Wie kann man das beheben?

Wir müssen verstärkt um Studierendenmobilität in Ländern werben, in denen es noch nicht so populär ist. Es gibt aber auch eine sprachliche und kulturelle Diskrepanz.

Inwiefern?

Die ungarische Sprache ist schön, aber schwierig. Ungarische Unis bieten da noch zu wenig englisch- oder französischsprachige Kurse an – oder auch zu wenig deutschsprachige Kurse. Da gibt es also Verbesserungsmöglichkeiten in den Ländern Zentraleuropas. Studierende aus Westeuropa fühlen sich manchmal aber auch immer noch entfremdet von Osteuropa. Daran müssen wir arbeiten.

Sollte es zu dem von Theresa May angekündigten harten Brexit kommen: Wie sind die Chancen, dass Großbritannien weiter an Erasmus teilnehmen kann?

Das werden wir sehen, es hängt von den Brexit-Verhandlungen ab.

Wie geht es angesichts der aktuellen politischen Entwicklungen mit der Türkei weiter, die seit Jahren an Erasmus teilnimmt?

Tatsächlich haben wir derzeit einige Probleme bei der Studierendenmobilität mit der Türkei. Gemeinsam mit meinem Kommissionskollegen Johannes Hahn habe ich einen Brief an die türkische Regierung geschrieben, um meine Sorgen über die Schließung von Universitäten und die Suspendierung von Wissenschaftlern auszudrücken.

Aber kann ein Land wie die Türkei, das die Wissenschaftsfreiheit massiv einschränkt, überhaupt Erasmus-Partner sein?

An dem Punkt sind wir nicht, das prinzipiell infrage zu stellen. Wir müssen abwarten, was die Zukunft bringt.

Wohin wird sich Erasmus entwickeln?

Vor drei Jahren haben wir einen großen Schritt gemacht, als ähnliche Unterprogramme in Erasmus Plus integriert wurden. Erasmus Plus ist jetzt ein umfassendes Programm für junge Menschen, weit übers Studium hinaus, bis in die Zivilgesellschaft hinein. Jüngst haben wir eine neue Initiative für junge Menschen ab 18 Jahren aufgelegt, das europäische Solidaritätscorps.

Worum handelt es sich dabei?

Junge Menschen können sich zum Beispiel in Notfallsituationen engagieren. Wir warten da auch noch auf Angebote von NGOs. Es gibt zudem einen berufsbildenden Teil, bei dem arbeitslose Jugendliche an den Arbeitsmarkt herangeführt werden. Seitdem das Corps in Dezember aufgelegt wurde, haben sich bereits 20 000 Menschen registriert.

Die deutschen Hochschulrektoren kritisieren, die EU habe es versäumt, aus Bildung und Forschung ein identitätsstiftendes europäisches Projekt zu machen. Stimmen Sie zu?

Das kann ich nicht nachvollziehen. Das Budget von Erasmus wächst in den kommenden Jahren jeweils um zehn Prozent. Der Studierendenaustausch gehört zum Herzen der europäischen Identität. Was will man mehr?

Die Fragen stellte Tilmann Warnecke.

Lesen Sie hier eine Umfrage: Was Berliner Studierende beim Erasmus-Austausch erleben.

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