Anonyme Geburten: Entbunden und verschwunden
Anonyme Geburt und Babyklappen: Retten sie Leben - oder sind sie eher gut gemeint als nützlich?
Die Tötung Neugeborener ist ein Thema, das die Öffentlichkeit nicht loslässt. Anfang und Ende des Lebens liegen hier entsetzlich dicht beieinander: eine junge Mutter will ihr Kind nicht, während unzählige andere Frauen keinen sehnlicheren Wunsch haben, als ein Kind zu bekommen.
Jeder bekannt werdende Fall der Tötung eines Neugeborenen schockiert aufs Neue. Die Taten fordern nicht nur zu Erklärungen heraus, mit denen man sich leicht unbeliebt machen kann – wie zuletzt Wolfgang Böhmer, Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt und früherer Gynäkologe. Böhmer hatte Kindstötung im Osten als Fortsetzung der DDR-Abtreibungspolitik interpretiert.
Kindstötungen wecken vor allem auch das Bedürfnis nach wirksamer Vorbeugung. Eine der Ideen dafür, die „Babyklappe“, ist keine Erfindung unserer Zeit. Schon Ende des 12. Jahrhunderts hat Papst Innozenz III. verfügt, Drehladen an den Pforten der Klöster anzubringen, in denen Findelkinder aufgenommen, versorgt und erzogen wurden. Die Babys sollten nicht ungeschützt im Freien ausgesetzt werden. In unserer Zeit wurde das Prinzip also nur wiederentdeckt. 76 Babyklappen, in denen ein Säugling anonym der Obhut eines Krankenhauses übergeben wird, gibt es inzwischen in Deutschland.
Die gute Absicht ist unbestritten, heftiger Streit ist jedoch inzwischen über die Frage entbrannt, ob die diskreten Vorrichtungen tatsächlich Kinderleben retten. Nach wie vor werden in Deutschland jedes Jahr 40 bis 50 Kinder ausgesetzt, obwohl inzwischen insgesamt auch 143 Kinder in Babyklappen abgegeben wurden. Diese Zahl wurde kürzlich aus dem Bundesfamilienministerium als Antwort auf eine Große Anfrage der FDP-Bundestagsfraktion genannt.
Zu Tötungen vom Neugeborenen gibt es keine amtlichen Zahlen, da alle Tötungsdelikte an Kindern bis zu sechs Jahren in der Statistik zusammengefasst werden. Schätzungen gehen jedoch von 15 bis 35 Fällen pro Jahr aus. Die Zahl der ausgesetzten und getöteten Neugeborenen hat jedenfalls nicht erkennbar abgenommen, seit im Jahr 2000 in Hamburg die erste Babyklappe unter dem Namen „Moseskörbchen“ eingerichtet wurde.
Auch das bayerische Moses-Projekt zur anonymen Geburt im Kreißsaal eines Krankenhauses führt den Namen des biblischen Findelkindes im Namen. Dort wird Frauen zugesichert, dass sie in einer der beteiligten Kliniken ihr Kind bekommen und anonym bleiben dürfen. Den rechtlichen Hintergrund dafür bildet das Zeugnisverweigerungsrecht der Mitarbeiter von Donum Vitae.
„Wir wollen den Kindern, die nicht gewollt werden, eine gesunde Zukunft geben“, sagt die Frauenärztin Birgit Seelbach-Göbel, Direktorin der Klinik St. Hedwig in Regensburg. Dort wurden in den letzten Jahren sechs Kinder unter Zusicherung der Anonymität geboren. Drei der Entbindungen wären wegen besonderer Probleme außerhalb des Krankenhauses wohl nicht so gut verlaufen. Vier der sechs Frauen haben sich später dazu entschlossen, ihr Kind zu sich zu nehmen. Das ist möglich, weil die Freigabe zur Adoption erst acht Wochen nach der Geburt rechtskräftig wird. Donum Vitae wirkt in der Beratung darauf hin, dass die Mütter den Kindern wenigstens einen Brief hinterlassen, wenn sie sich gegen ein Leben mit ihnen entscheiden.
Doch wenn es keinen Brief gibt? Jeder Mensch hat ein Recht darauf, seine Abstammung zu kennen. Aus psychologischen Studien weiß man, dass es einen schweren Schatten auf das gesamte Leben legt, über seine biologischen Eltern gar nichts zu wissen.
Was es für die Seele eines Menschen bedeutet, seine Herkunft nicht zu kennen, sehe man an Schadensersatzprozessen von inzwischen Erwachsenen, deren biologischer Vater ein anonymer Samenspender ist, sagt die Rechtsanwältin Ulrike Riedel. Darf ein Arzt einer Frau also überhaupt zusichern, er werde ihre Anonymität wahren?
Juristisch gesehen machen sich Geburtskliniken und ihre Mitarbeiter, die nicht jede Geburt innerhalb einer Woche beim Standesamt melden und das Jugendamt als gesetzlichen Vormund bei der Aufklärung der Identität des Kindes unterstützen, der Personenstandsunterdrückung schuldig. Riedel wendet sich vehement dagegen, dass Kliniken mit der Möglichkeit zur anonymen Geburt werben. Weil das einen Anreiz schaffen könnte, den leichteren Weg zu gehen. „Es gibt heute genug legale Hilfen, eine Adoption kann diskret durchgeführt werden.“
Nach Ansicht von Anke Rohde, Psychosomatikerin an der Bonner Uniklinik, gehören die Frauen, die heute das Angebot zur Anonymität wahrnehmen, ohnehin nicht zu der Gruppe, die in Gefahr steht, ihr Baby auszusetzen oder kurz nach der Geburt zu töten. Sie würden es ohne dieses Angebot eher auf ganz regulärem Weg zur Adoption freigeben oder sogar Hilfsangebote annehmen, um es bei sich behalten zu können. Zur Anonymität entscheiden sie sich nach Erfahrung der Psychosomatikerin oft unter Druck ihrer Umgebung, etwa weil sie illegal in Deutschland sind.
Einer Neugeborenentötung gehe dagegen nicht nur eine Verheimlichung, sondern oft auch eine Verdrängung der Schwangerschaft voraus. Tötungen Neugeborener haben in modernen Gesellschaften einen anderen Hintergrund als zu der Zeit, als Fausts Gretchen das gemeinsame Kind tötete, um nicht als ledige Mutter gesellschaftlich geächtet zu sein. „Meist handelt es sich bei den Täterinnen heute um Frauen mit bestimmten Defiziten bei der Lösung von Problemen. Aufgrund ihrer psychischen Auffälligkeiten fehlt ihnen die Fähigkeit zur Kontaktaufnahme mit einer Klinik.“ Tötungen von Neugeborenen werden durch das Angebot zur anonymen Geburt deshalb nach Rohdes Ansicht nicht verhindert. Sie fürchtet aber wie Riedel, dass im Fall der anonymen Geburt und der Babyklappen das Angebot erst die Nachfrage schafft.
Besonders für die Geburtshelfer im Krankenhaus entsteht mit dem Wunsch nach der anonymen Geburt eine vertrackte Situation: „Wir machen uns schuldig, wenn wir einer Gebärenden nicht Hilfe leisten. Wir werden aber andererseits gegenüber dem Gesetz schuldig, wenn wir den Wunsch nach Anonymität einer Niederkommenden achten“, sagt der Kieler Gynäkologe Walter Jonat, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe, die kürzlich in Berlin ein Symposium zum Thema veranstaltete.
Klaus Vetter, Direktor der Klinik für Geburtsmedizin am Perinatalzentrum des Vivantes-Klinikums Neukölln, schilderte einen selbst erlebten Fall: Eine 30-jährige Frau, gut ausgebildet und schon Mutter zweier Kinder, kommt in der 35. Schwangerschaftswoche zum Gespräch in seine Klinik. Auf keinen Fall dürfe bekannt werden, dass sie die Mutter dieses Kindes ist, sie wolle es ohne Angabe ihrer Personalien in der Klinik zur Welt bringen und danach gleich zur Adoption freigeben. Zwei Wochen später wird das Kind per Kaiserschnitt geboren. Der Beistand von Ärzten und Hebammen ist dabei für Mutter und Kind möglicherweise lebensrettend. Aber amtliche Nachfragen und ein Ermittlungsverfahren folgen. Vetter spricht nach dieser und ähnlichen Erfahrungen von einem Entscheidungsnotstand der Geburtshelfer in der Klinik.
Als willkommene Unterstützung würden er und seine Kollegen es empfinden, wenn Schwangere sich im Notfall wenigstens zu den Vorsorgeuntersuchungen, die meist bei niedergelassenen Frauenärzten stattfinden, anmelden könnten, ohne ihre persönlichen Daten preiszugeben. Nicht einmal jede dritte Frau, die ihr Kind anonym bekommt, war vorher dort. Ganz allein ist es sicher am schwersten, eine Lösung zu finden.
Adelheid Müller-Lissner
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