Sterbefasten statt Sterbehilfe: Am achten Tag war sie tot - und lächelte
Sterbehilfe ist verboten, Sterbefasten nicht: Mit 83 Jahren hört Tana Herzberg auf zu essen und zu trinken, begleitet von einem Arzt
So paradox es klingt, Tana Herzberg hat selbst das Loslassen noch unter Kontrolle behalten. Nie riecht es nach Krankenhaus bei ihr zu Hause, und weiß ist in ihrer Wohnung schon gar nichts. Der Gebetsteppich stammt aus Indien, die Möbel sind alt, die Bilder riesig. Nicht einmal ein spezielles Pflegebett besitzt die ehemalige Solo-Tänzerin der Deutschen Oper mit ihren 83 Jahren. Tana Herzberg hat ihr Bett einfach auf die Brockhaus-Bände des verstorbenen Mannes gebockt. Als sie sich hineinlegt und aufhört zu essen und zu trinken, rechnet sie nur noch mit wenigen Tagen.
Wenn es gut ist, ganz zum Schluss, dann verweigern in den Wohnungen, Heimen und Hospizen alte Menschen manchmal einfach die Nahrung. Sie essen ohnehin so wenig, oft fällt es gar nicht auf. Oder es scheint, als würden sie es vergessen. „Der wollte nicht mehr“, heißt es, als wäre damit alles gesagt und als wäre auch gar nicht strittig, dass einer nicht mehr wollen darf, wenn er alt und schwach und dem Tod nahe ist. Nur, dass man „der wollte nicht mehr“ in keine Urkunde der Welt als Todesursache eintragen kann. Da steht Herz- oder Nierenversagen.
Tana Herzberg, Herzversagen, ist eines Todes gestorben, den einige wählen. Wenige aber so genau geplant. In so guter Gesellschaft. Ohne unnötiges Leid. Sie hatte sich von ihren Freunden verabschiedet, und als es losging, rief sie nicht ohne Stolz die eingeweihten Blumenhändlerinnen an: „Das Projekt hat begonnen.“
Angekündigt und idealerweise von Pflegern, Angehörigen und einem Arzt palliativ begleitet, heißt dieser Tod durch Unterlassung „Sterbefasten“, auch FVNF, „Freiwilliger Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit“. Entgegen landläufiger Vorstellungen vom Verhungern und Verdursten ist Sterbefasten, wenn man es richtig macht, eine besondere, „sanfte Form“, selbstbestimmt aus dem Leben zu treten, sagt der Berliner Arzt Hartmut Klähn, der sich auf die Beratung spezialisiert hat. Gut möglich, dass dies noch die einzige Form der Selbstbestimmung ist, die ein Arzt begleiten darf.
Am 6. November 2015 stimmte der Deutsche Bundestag für ein neues Strafgesetz, das die „geschäftsmäßige“ und „wiederholte“ Beihilfe zum Suizid verbietet. Eine der ersten Folgen des Gesetzes war, dass viele Menschen sich das Leben nahmen. Denn in den Wochen bis zu seinem Inkrafttreten wählten Menschen den Notausgang, denen bis dahin allein die Möglichkeit, ihr Ende irgendwann in der Hand zu haben, Kraft gegeben hatte, weiterzuleben. Die Sterbehelfer kamen kaum hinterher, ihre Versprechen einzulösen, die sie für den Notfall gegeben hatten. Denn der Notfall war jetzt eingetreten. Nicht etwa durch eine Verschlechterung ihrer Gesundheit, sondern durch ein Gesetz. Gita Neumann vom Humanistischen Verband weiß „von einem bundesweit bekannten ärztlichen Suizidhelfer“, der „bis zum Inkrafttreten am 3. Dezember fast täglich“ Schwerkranke in den Tod begleitete. Sie wollten sichergehen. Denn Paragraf 217 StGB ist so vage formuliert, dass bis heute nicht alle Beteiligten wissen, wo demnach Sterbebegleitung aufhört und Sterbehilfe beginnt.
Tina Herzberg, die quirlige Nichte der Tänzerin, zieht an einem eisigen Abend in einem Café in Mitte aus der roten Handtasche, die einmal ihrer Tante gehört hatte, deren zweifach gefalteten Willen. In sorgfältiger Handschrift steht da: „Berlin, 8.4.2015. Hiermit entbinde ich alle Angehörigen, Freunde, Ärzte und Pflegende aus der Garantenpflicht. Ich bestimme hiermit, in keiner Situation aus meiner Wohnung heraustransportiert zu werden. Ich wünsche in Ruhe sterben zu können.“
Nur diesen Zettel brauchte es damals, und ihr Wille geschah. Der Wunsch einer stolzen Frau, deren Leben von Disziplin und dem Streben nach Schönheit getrieben und die in ihrem Leben vieles gewesen war – Tänzerin, Atemtherapeutin, Mutter, Großmutter, Professorengattin, Witwe. „Sie wollte überhaupt niemandem zur Last fallen“, sagt die Nichte. 50 Jahre lang hatte sie nicht darüber geklagt, dass nach der Zeit als Tänzerin ihr Skelett und die Organe geschädigt waren. Ihr außen liegender Darm drückte gegen die Bauchdecke. Schmerz war ihr ständiger Begleiter. Weil sie die konventionellen Medikamente nicht vertrug, bezahlte sie jährlich privat 8000 Euro für Globuli und andere homöopathische Mittel. Sie hatte keine Pflegerin, bezahlte aber eine private Haushälterin. Unabhängig wollte sie sein, Tänzerinnen lassen die größte Schinderei leicht aussehen.
Seit 1961 hat sie 54 Jahre in ihrer Charlottenburger Wohnung gelebt, die ist mit ihrer Bibliothek, nach guten Tees und Ölen duftend, ihr Zuhause. Undenkbar, vielleicht über Jahre ein Pflegefall zu werden. Nach zwei schweren Stürzen, die Wohnung kann sie schon lange nicht mehr verlassen, entscheidet Tana Herzberg, dass es so weit ist. Ostern ist vorbei, die Tage werden länger, da beginnt sie am Montag, dem 27. April, zu fasten. Sie nimmt nun auch keine Telefongespräche mehr an.
In ihrer 220-Quadratmeter-Wohnung kreisen, so ist es verabredet, von jetzt an die Nichten und die 25-jährige Enkelin in Schichten um sie, die keine Stunde mehr allein sein sollte. Die knarzenden Dielen kündigen an, wenn jemand zu ihr über den langen Flur ans Bett kommt, wo sie, weil die Wohnung so weitläufig und ihre Stimme so schwach ist, einfach mit einem Holzlöffel auf einen umgedrehten Topf schlägt, wenn sie etwas braucht. Alles verlangsamt sich. Dass auch die Stimmbänder an Kraft verlieren, ist eine Folge der allgemeinen Schwächung durch Fasten. Ihre Angehörigen sind davon nicht geschockt, sie sind gewarnt. Es war Hartmut Klähn, der sie auch auf dieses Detail vorbereitet hatte.
Der Allgemeinarzt von 72 Jahren ist in den letzten Jahren Ansprechpartner für Sterbefasten geworden. Eine eigene Praxis hat er nicht mehr, aber in Bereitschaft ist er noch. Es handelt sich um eine Art allgemeiner, menschlicher Hilfsbereitschaft für aussichtslose Fälle. Ein Pfarrersohn, der nicht mehr glaubt, sondern lieber denkt.
Der Arzt denkt, Beratung beim Sterbefasten falle nicht unter Beihilfe zum Suizid. Das Fasten ist eine Unterlassung des Patienten, gedeckt durch das Patientenrecht. Der Arzt, der sich um die Verringerung von dessen Leiden kümmert, ist dann nur Palliativmediziner. Und doch hat das neue Gesetz mit seinen undefinierten Begriffen Unsicherheiten geschaffen. Zuvor hatte sich der Umgang mit dem Tod so weit liberalisiert, dass Sterbefasten auch in einem Heim möglich war, mit Billigung der Leitung und der Pfleger. Doch nun möchte ein Heim nicht mehr über die Praxis reden. Alles Mögliche kann womöglich in den Sog der Begriffe „geschäftsmäßig“ und „wiederholt“ geraten. Handelt nicht jeder Arzt, weil es eben sein Beruf ist, in allem „geschäftsmäßig“ und „wiederholt“? Macht sich der Leiter eines Hospizes strafbar, wenn er Fasten in seinen Räumen erlaubt, die er ja „geschäftsmäßig“ anbieten muss? Diese Dinge hat noch niemand definiert. „Das Gesetz sollte geschäftsmäßige Beihilfe zum Suizid verhindern – aber tatsächlich wird dadurch auch die Sterbebegleitung geschädigt“, sagt Klähn.
Denn ohne einen Arzt kann auch das Sterbefasten unnötig grausam sein. Er muss dafür sorgen, dass Medikamente, die der Patient ohnehin einnehmen muss, etwa Schmerzmittel oder Insulin, auch dann in den Körper gelangen, wenn sie nicht mehr mit Flüssigkeit heruntergeschluckt werden können, etwa subkutan oder über Pflaster. Der Patient soll ja nicht an einem Insulinschock oder durch Medikamentenentzug sterben.
Klähn, in seiner Wohnung bücherumstellt, zieht aus dem Regal: „Ausweg am Lebensende“, Dritte Auflage. Das Standardwerk zum Sterbefasten brachte ihn einst dazu, sich zu spezialisieren. Der holländische Psychiater Boudewijn Chabot und der Neurobiologe Christian Walther beschreiben darin das Sterbefasten als „vernachlässigte Methode“, auf eine sanfte, wenn nicht „natürliche“ Art, sein Leben zu beenden. Und vielleicht ist sie deshalb so vernachlässigt, weil sie im Stillen so bekannt ist, dass sie niemandem der Rede wert erscheint.
„Für junge Menschen kommt diese Methode gar nicht infrage“, sagt Klähn. Es würde einfach zu lange dauern. Aber für „austherapierte“ Krebspatienten – Klähn schüttelt sich bei dem Wort – für die wenigen, denen im Angesicht von steigendem Leid ein Ausweg fehlt, Menschen, die ohnehin einen verminderten Appetit haben und dem Ende nahe sind, könne es eine Erleichterung bieten. Selten dauert es länger als zwei Wochen.
Zwei Dinge sind besonders, sagt Klähn: Der Entschluss ist umkehrbar. Einige Tage könne man in diesem Zustand verharren, „es ist ja ein inneres Ereignis – dann kann einer wieder genesen“. Und der Patient muss Getränke und Essen, das man ihm hinstellt, immer wieder ablehnen. „Das kann niemand machen, der keinen ausgeprägten Willen hat.“ Kurzschlussentscheidungen sind ausgeschlossen. Klähn besteht außerdem darauf, dass die Angehörigen informiert und einverstanden sind. Die Nichten und die Enkelin an Tana Herzbergs Bett formulieren ihre Fragen so, dass die nur noch mit einem Nicken oder einer Handbewegung antworten muss. Sie wären nicht auf die Idee gekommen, ihr das Vorhaben auszureden, dazu kennen sie sie zu gut. Mit dem unbedingten Willen, mit dem sie ihr Leben gestaltete, hat sie sich auch ihren Tod nicht aus der Hand nehmen lassen.
Alles, sagt die Nichte, hatte immer Stil bei ihr, bis zuletzt. Nun warten sie gemeinsam auf den Tod und alles hat seine Würde. Die Stimmung empfinden sie als schön, manchmal geradezu fröhlich. „Sie sind eine kapriziöse Persönlichkeit“, sagt der Arzt. Tana Herzberg empfindet das als Kompliment.
Klähn glaubt, im Kern sei Empathiefähigkeit der Grund, warum er heute tut, was er tut. Er kümmert sich um Sterbende, und dazwischen nimmt er Klavierunterricht. Er erzählt, wie sich in den letzten Tagen einmal Mutter und Tochter so angenähert haben, dass beide am Ende in einem Bett schliefen. Eines Morgens wachte nur noch die Tochter auf. Es treten ihm die Tränen in die Augen. Dann gießt er Earl Grey nach.
Jahrelang hatte Klähn eine Praxis in der Kreuzberger Arndtstraße. Er arbeitete außerdem bei einem privatärztlichen Notdienst, der zusammen mit der Polizei Türen öffnen musste. Es war das eine, sagt Klähn, Menschen an Fensterkreuzen hängen zu sehen. Schlimmer war es, wenn die Spuren auf einen grausamen Todeskampf deuteten, den er sich nur vorzustellen vermochte anhand der zerwühlten Ecken, den wahllosen Tabletten, Exkrementen und Erbrochenem in den Zimmern. Er fand, eine aussichtslose Lage könne man auch anders beenden.
Für Tana Herzberg haben sie vorher eine Anti-Dekubitus-Matratze besorgt, damit sie sich nicht wundliegen würde. Weil das Durstgefühl durch die Austrocknung der Mundschleimhäute ausgelöst wird, ist das Wichtigste die Mundpflege: Feuchte Wattestäbchen mit Zitronengeschmack und Eiswürfel aus grünem Tee, den sie so gerne mag, halten die Schleimhaut geschmeidig. Sobald das Eis zu schmelzen beginnt, spuckt sie es aus.
Sie wartet darauf, dass „nach einer Weile des Fastens“ der Körper beginne „Endorphine zu produzieren, die auf die Stimmung eine Morphin-ähnliche Wirkung haben“, wie Chabot schreibt. Sie wartet auf den angenehmen Zustand erhöhter Schläfrigkeit, der sich bei Dehydrierung und niedrigem Blutdruck einstellt. Wenn ohne Flüssigkeitszufuhr die Harnstoffe nicht mehr ausgeschieden werden und sich psychische Gelassenheit ausbreitet. Damit die Nieren ihre Arbeit nicht wieder aufnehmen, sind 50 Milliliter Flüssigkeit am Tag die Obergrenze. Wer mehr trinkt, verlängert den Prozess.
Tana Herzberg hört natürlich sofort ganz mit dem Trinken auf. Sie, die selbst nichts mehr isst, lässt Klähn bei seinen Besuchen immer einen besonderen Früchte-Nusskuchen servieren, nachdem sie gemerkt hatte, wie gut der ihm schmeckt. Klähn findet, das hat Format.
Es sind schon besondere Menschen, sagt Klähn, die diese Form des Sterbens wählen. Die sehenden Auges in ihren Tod gehen. Die es schaffen, mehrere Tage lang bewusst das Sterben zu durchleben. Klar bis zuletzt. Kantige, willensstarke Persönlichkeiten. „Das ist nicht für jedermann geeignet.“
Kann jemand gleichzeitig lebensmüde und todesmutig sein? Die Nichte sagt, für sie selbst wäre solch ein Tod keine Option. Aber ihre Tante hatte die charakterlichen Kapazitäten, um sich mithilfe ihrer Verwandten über das Stärkste hinwegzusetzen, das der Mensch hat: den Überlebenswillen. Als der Krieg zu Ende ging, erzählt sie, war Tana 13 Jahre alt. „Sie konnte Dinge von sich abspalten, eigene Schmerzen und Bedürfnisse von sich trennen, sie hat Schmerzen in Leistung verwandelt.“ Was immer der Grund für diese Fähigkeit gewesen sein mag, „sie hat ihr auch ihre Karriere ermöglicht“. Sonst hätte sie sich wohl kaum in den 50er Jahren zur Solo-Tänzerin der Deutschen Oper emporschinden können.
Die Nichte, eine klare, eindeutige Person im Café-Gewusel, sagt über den selbstbestimmten Tod ihrer Tante: „Es war kein Opfer. Die Erfahrung war auf unserer Seite.“ Sie würde wieder jemandem helfen. Erst hinterher spürten sie alle die Anstrengung, die es sie gekostet hatte, eine Sterbende in ihren Tod zu begleiten.
Als man Tana Herzberg lächelnd am Morgen des achten Tages fand, lag sie schräg auf ihrem Bett, die Füße ruhten seitlich auf dem Boden, als hätte die Tänzerin noch einmal Kontakt zur Erde aufnehmen wollen. Der Bestatter kam und schlug den Sarg aus, der schon zehn Jahre lang in einer Kammer ihrer Wohnung gestanden hatte.