Psychiatrie: Die Zwickmühle des Zwangs
Psychiatriepatienten werden nicht selten gegen ihren Willen therapiert. Nun beziehen Ärzte zu den Zwangsbehandlungen Stellungen.
Nur eine erneute Chemotherapie könnte den Krebskranken retten, doch er möchte die Behandlung nicht nochmals durchmachen. Eine Bluttransfusion erscheint den Ärzten wegen des starken Blutverlusts nach einer Operation nötig, doch der Patient ist Zeuge Jehovas und lehnt sie ab. Es ist das gute Recht jedes Menschen, sich gegen eine Therapie zu entscheiden – auch wenn sie ihm das Leben retten könnte.
Doch was ist, wenn der Patient eine solche selbstbestimmte Entscheidung nicht treffen kann? Weil er aufgrund einer Demenz nicht erkennen kann, was eine Operation ihm nützen könnte? Oder, noch schwieriger, weil er kurzfristig, aufgrund einer Psychose, von fremden Mächten bestimmt wird und Stimmen hört, die ihm befehlen, sich das Leben zu nehmen? Wenn er trotzdem keine Medikamente nehmen will, obwohl Psychopharmaka die Qualen lindern würden? Wenn jemand akut zur Gefahr für sich selbst oder für seine Umgebung wird, darf dann Zwang den Respekt vor dem Willen des Erkrankten ersetzen?
Mit einer Stellungnahme zum Thema Selbstbestimmung und Zwang möchte die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde nach den Worten ihres Präsidenten Wolfgang Maier „Orientierung für gutes ärztliches Handeln“ im Spannungsfeld zwischen Patientenwillen, Heilungsauftrag des Arztes und Erwartungen der Gesellschaft geben.
Die Psychiater haben auch eine Art Polizeifunktion
Seit Jahren kommen unverändert rund acht Prozent der Patienten gegen ihren Willen in eine psychiatrische Klinik. Da die Zahl der Aufnahmen dort in den letzten beiden Jahrzehnten deutlich gestiegen ist, hat auch die absolute Zahl dieser erzwungenen Aufnahmen zugenommen. Vor allem wenn der Grund in angenommenen Fremdgefährdungen liegt, haben die Psychiater hier auch eine Art Polizeifunktion. Eine Doppelrolle, die für die Ärzte oft ein Dilemma beinhaltet. Weil es einen gravierenden Eingriff in die Grundrechte darstellt, einen Menschen gegen seinen Willen in eine Klinik zu bringen, fordern sie nun eine Diskussion über diese ordnungspolitische Funktion.
Die Psychiater fühlen sich nicht wohl in ihrer Haut, wenn sie an ihre Behandlungsoptionen in dieser heiklen Situation denken. Etwa für einen Patienten, der sich selbst gefährden könnte, weil er in einer manischen Phase der Vorstellung folgt, fliegen zu können, aber keine Behandlung zulässt. Dann sind ihnen zunächst die Hände gebunden, auch wenn sie sehen, dass Medikamente dazu beitragen würden, die volle Fähigkeit zur Selbstbestimmung schnell wieder herzustellen. „Rechtlich ist es einfacher, einen Patienten festzubinden, zu fixieren, als ihn mit Medikamenten zu behandeln“, berichtete Mitautor Henrik Walter von der Klinik für Psychiatrie der Charité bei der Vorstellung der Stellungnahme. Der Schwellenwert für Fixierungen liege in den Ländergesetzen zu niedrig. Die Fachgesellschaft beruft sich dabei auf Untersuchungen, die gezeigt haben, dass körperliche Freiheitseinschränkungen von den Betroffenen als besonders demütigend erlebt werden. Eine zusätzliche Hürde in Gestalt einer ausdrücklichen rechtlichen Genehmigung sei deshalb angemessen.
Im Klinikalltag gibt es zahlreiche Schattierungen der Selbstbestimmung
Wie Walter verdeutlichte, ist zwar bei den juristischen Begriffen „Geschäftsfähigkeit“ und „Einwilligungsfähigkeit“ ein klares Ja oder Nein gefordert. In der Realität des Klinikalltags gibt es jedoch selten ganz oder gar nicht, dafür zahlreiche Schattierungen der Selbstbestimmung. „Auch mit einem nicht selbstbestimmungsfähigen Patienten kann man reden, man kann deeskalieren und ihn beruhigen.“ Dafür seien allerdings neben einer guten Ausbildung, ausreichend Personal und geeignete Räume entscheidend.
Psychiater werden von ihren ärztlichen Kollegen um Rat gefragt, wenn es um die Entscheidungsfähigkeit von Patienten geht. Volle Selbstbestimmungsfähigkeit setzt voraus, dass man Informationen der Ärzte aufnehmen kann, dass man genügend Urteilsvermögen besitzt, um sie gewichten zu können, dass man einsieht, in der konkreten Situation medizinische Hilfe brauchen zu können und schließlich, dass man die eigene Entscheidung verständlich äußern kann.
Für den Fall, dass das nicht möglich ist, haben Vorausverfügungen Bedeutung. Vor allem Patientenverfügungen, die auch Rechtsverbindliches für den Fall einer psychischen Erkrankung enthalten können. Ebenfalls sinnvoll sind Behandlungsvereinbarungen mit den Ärzten. In ihnen ist niedergelegt, was schon einmal geholfen hat und was im Ernstfall wieder angewandt werden sollte. Als Basis, auf die man in der Krise bauen kann.