Psychologie: Die Wissenschaft vom Lächeln
Jeder Mensch lächelt ab und an, egal wo er zu Hause ist. Die Kultur beeinflusst jedoch, wie das Lächeln zum Einsatz kommt. Und was es bedeutet, muss man lesen können.
Diese Szenen wird man lange nicht vergessen: Müde Kinder, Frauen und Männer mit abgekämpften Gesichtern wurden nach ihrer langen Reise an deutschen Bahnhöfen wie nahe Verwandte und Freunde umarmt. Einheimische Helfer kamen den Geflüchteten mit einem strahlenden Lächeln entgegen.
War das ein Septembermärchen? Ganz sicher ein Fall für die Forschung. „Wenn Fremde erstmals aufeinandertreffen, sagt die Präsenz eines Lächelns zuverlässig voraus, dass man sich vertraut und bereit ist, Ressourcen zu teilen“, sagt Paula Niedenthal von der Universität Wisconsin in Madison. Die Psychologin konnte belegen, dass die Migrationsgeschichte eines Landes maßgeblich dafür ist, wie leicht dieses Lächeln seinen Bewohnern im Alltag fällt.
Niedenthal und ihre Kollegen verwendeten Kennziffern für „historische Heterogenität“. Diese Zahlen fassen zusammen, aus wie vielen Staaten die Vorfahren heutiger Einwohner im Laufe der letzten 500 Jahre ins Land gekommen waren. Kanada steht mit einer Kennziffer von 63 in diesem Index weit oben. China und Japan haben wegen ihrer extrem homogenen Bevölkerung die Kennziffer eins, Deutschland liegt im Mittelfeld. Anschließend befragten die Forscher Bürger unterschiedlicher Nationalitäten, wie sinnvoll es sei, in aller Öffentlichkeit Gefühle zu zeigen.
Ein Ausweis der Vertrauenswürdigkeit
In den Ländern mit vielen Einwanderern herrschte die Meinung vor, man solle mit den eigenen Emotionen nicht hinter dem Berg halten. Vor allem nicht mit den positiven. Neben Kanada taten sich Neuseeland und die USA durch eine „Kultur des Lächelns“ hervor, schreiben die Forscher im Fachblatt „PNAS“. In Ländern, in denen die Bevölkerung über Jahrhunderte homogen zusammengesetzt war, seien die Reaktionen der anderen leicht vorherzusagen – unabhängig von der Sprache, meint Niedenthal. Minimale Mimik genüge, um sich zu verstehen.
Ist ein Land dagegen aufgrund seiner Geschichte bunter zusammengewürfelt, dann war es immer wieder nötig, Gefühle und Absichten möglichst unmissverständlich zum Ausdruck zu bringen – mithilfe der Gesichtsmuskulatur. Zu den unausgesprochenen Regeln gehört es dann auch, selbst Unbekannten ein Lächeln zu schenken. Einen Ausweis der Vertrauenswürdigkeit, den ein Mensch nicht so leicht einbüßt wie seine Papiere.
Der freundliche Gesichtsausdruck hat nicht nur die Kraft, Bindungen zu knüpfen und zu stärken oder jemanden zu belohnen. Er kann eine dritte Aufgabe übernehmen: Wer wann und wie lächelt, das offenbart unter Umständen Hierarchien und kann sie zementieren. Etwa wenn Untergebene ihren Chefs schöntun und den Ärger über ihnen aufgebrummte Mehrarbeit unbemerkt hinunterschlucken. Dieser Aspekt des Lächelns, das zeigte eine Befragung von 726 Menschen in neun Ländern, ist in den Gesellschaften mit homogener Bevölkerung und stabilen Hierarchien bedeutsamer. In Ländern mit hohem Heterogenitäts-Index wird es dagegen überwiegend als freundliche Geste gedeutet. Ein soziales Schmiermittel ist es allemal.
Schon Babys kommunizieren lächelnd
Mund- und Augenringmuskulatur sind bei Menschen aller Kulturen von klein auf im Einsatz, um den charakteristischen Gesichtsausdruck des Lächelns zu formen. Es beginnt damit, dass Neugeborene ihr Gesicht, meist im Schlaf, zu etwas verziehen, was wie ein Lächeln aussieht, jedoch noch keines ist. „Engelslächeln“ sagt der Volksmund zu diesem zauberhaften ersten Anflug. Mit vier bis acht Wochen beginnen Babys wirklich, andere anzulächeln. Erst dann ist das Gehirn reif dafür.
Wahrscheinlich stehe und falle alles damit, dass die Nervenzellen, die die tief im Gehirn liegenden Basalganglien vernetzen, mit einer Myelinschicht ummantelt werden, meint die Neurobiologin Lise Eliot von der Chicago Medical School. Denn erst damit sind diese Strukturen unterhalb der Großhirnrinde, die jede willkürliche Bewegung steuern, voll funktionsfähig.
„Das soziale Lächeln ist wahrscheinlich der universellste aller Meilensteine in der Entwicklung des Menschen“, schreibt sie in ihrem Buch „Was geht da drinnen vor?“. Sogar von Geburt an blinde Säuglinge sind dazu in der Lage. Universell ist vermutlich auch, dass Eltern dahinschmelzen, sobald sich die kleinen zahnlosen Münder öffnen und die Mundwinkel sich dank fein abgestimmter Muskelkontraktionen leicht nach oben ziehen.
Das Timing sitzt schon nach kurzer Zeit
Bereits mit ein paar Monaten beherrschen Babys die Kunst, den optimalen Zeitpunkt für ihr Lächeln zu finden. Entwicklungspsychologen und Robotik-Spezialisten von der Universität Kalifornien in San Diego haben das auf ungewöhnliche Art bewiesen: Sie beobachteten zuerst, wie Säuglinge und ihre Müttern miteinander umgehen.
Anschließend programmierten sie einen kleinen Roboter mit Puppengesicht so, dass er die Gesichtsausdrücke seines Gegenübers „erkannte“ und unterschiedliche Strategien der Interaktion beherrschte. Ahmte „Diego San“ genau das Verhalten nach, das den Babys abgeschaut war, so konnte er unter sparsamstem Einsatz eigenen Lächelns besonders viel Gegen-Lächeln auf die Gesichter der Probanden zaubern. Dass schon Säuglinge ihre Mimik bewusst einsetzen, wollen die Forscher damit selbstverständlich nicht behaupten.
Das Angstgrinsen der Affen
Lise Eliot hält Lächeln für das menschliche Begrüßungssignal schlechthin. Für die uns allen angeborene Möglichkeit zur gegenseitigen Kontaktaufnahme. Dazu passt, dass Babys meist kurze Zeit später die ersten sprachnahen, brabbelnden Versuche zur „Protokommunikation“ starten. Also ferne Vorboten der Sprache.
Lächeln auch Tiere, denen die Sprache fehlt? Marina Davila-Ross von der Universität Portsmouth und ihre Kollegen haben bei Schimpansen Anzeichen dafür gefunden. Sie analysierten Filmaufnahmen und sahen bei den Menschenaffen – meist von lach-ähnlichen Lauten begleitet – Gesichtsausdrücke, die denen lächelnder Menschen ähnelten. Das sei ein Vorläufer unseres Lächelns, vermuten sie. Ob und welche Gefühle bei den Schimpansen damit einhergehen, ist eine andere Frage.
Das echte und das aufgesetzte Lächeln
Schon länger gibt es die These, dass Lächeln im Lauf der Evolution aus einer Unterwerfungsgeste heraus entstanden ist: Unterlegene Affen entblößen gegenüber ranghöheren Tieren die Zähne, ohne die Kiefer voneinander zu lösen. Der Primatenforscher Jan van Hooff von der Universität Utrecht nennt es das Angstgrinsen. Später könnten dominante Individuen diese Geste übernommen haben, um ihrerseits vertrauenswürdig zu wirken – auch in menschlichen Gesellschaften. Forscher vom Max-Planck-Institut für Evolutionsbiologie in Plön und der Toulouse School of Economics haben mit Experimenten bestätigt, dass ein als authentisch empfundenes Lächeln entscheidend dazu beiträgt, als vertrauenswürdiger Geschäftspartner eingeschätzt zu werden.
Spontanes Lächeln baut sich langsamer auf
Seit der französische Physiologe Guillaume Benjamin Duchenne im 19. Jahrhundert die Muskelgruppe rund um das Auge als „Muskel der Freude“ charakterisierte, gelten Fältchen um die Augen als Anzeichen dafür, dass ein Lächeln „echt“ ist. An dieser unwillkürlichen Bewegung ist der seitliche Musculus orbicularis oculi beteiligt. Dass nur der große Jochbeinmuskel Zygomaticus major als Mundheber tätig ist, reiche nicht, heißt es.
„Das ist widerlegt“, sagt die Psychologin Michaela Riediger vom Berliner Max-Planck-Institut für Bildungsforschung. Ob die Augenmuskulatur beteiligt ist, sage zwar etwas über die Intensität des Lächelns aus. Nicht aber darüber, ob sich eine Person tatsächlich freut oder amüsiert ist – oder ob sie ein Lächeln aufsetzt, um höflich zu sein oder Verlegenheit zu kaschieren. Auch Symmetrie sei kein Kriterium, denn akribische Messungen ergaben, dass selbst ein echtes Lächeln etwas schief sein kann. Trotzdem könne man beides voneinander unterscheiden, sagt die Psychologin. Man müsse nur genauer hinschauen: „Spontanes Lächeln baut sich meist weicher und langsamer bis zum Höhepunkt auf. Es klingt danach auch sanfter ab.“
Michaela Riediger und ihre Kollegen wollten wissen, ob junge oder alte Menschen diese Feinheiten besser erkennen. Sie zeigten ihren Probanden 80 kurze Videos, in denen andere wegen eines lustigen Films lächeln mussten oder aber angesichts einer ungerechten Anschuldigung ein Lächeln aufsetzten. Grundsätzlich lagen junge Probanden richtiger, schreiben die Forscher im Fachblatt „Frontiers in Psychology“.
Anscheinend kommt es mit den Jahren zu einer Abschwächung dessen, was die Psychologen „empathische Genauigkeit“ nennen. Das bestätigte zunächst, was der amerikanische Emotionsforscher Paul Ekman schon vor Jahrzehnten festgestellt hatte. Allerdings mit einer wichtigen Einschränkung: Sahen die älteren Probanden in den Filmausschnitten lächelnde Altersgenossen, war ihre Treffsicherheit fast so gut wie die der Jungen. Altersgleichheit sorgt offensichtlich für mehr empathische Genauigkeit.
Wer nachahmt, fühlt mit
Und wie gut können Paare den Gefühlszustand des anderen einschätzen? Je besser man einen Menschen kennt, desto besser müsste es doch eigentlich gelingen, seine Mimik zu deuten. Riedinger und ihre Kollegen baten junge Paare im Alter zwischen 20 und 30 und alte Paare über 69 Jahre in verschiedenen Situationen, über die Gefühlslage des Partners oder der Partnerin zu mutmaßen. Den Jüngeren gelang das wesentlich akkurater, sofern sie das Gesicht des anderen vor sich hatten.
Die Älteren schnitten dagegen besser ab, wenn es darum ging, die Seelenlage ihres abwesenden Partners einzuschätzen. Wissen ging hier vor Sehen. „Wir können nur spekulieren, warum das so ist“, sagt Riediger. Möglicherweise seien die jüngeren Paare – zumal die, die sich noch nicht lange kannten – motivierter, sich ihre Emotionen mitzuteilen, sodass sie mehr Ausdruck in ihr Gesicht legten. Verstehen sich dagegen alte Ehepaare nicht nur „ohne Worte“, sondern auch ohne sich anzuschauen?
Das wäre schade. Denn nicht nur Lachen, auch Lächeln kann anstecken. Und wer sich anstecken lässt, versteht möglicherweise sein Gegenüber besser. Die Mimik ihrer Mitmenschen deuten Probanden dann am zutreffendsten, wenn sie sie nachahmen, zeigte Paula Niedenthal. In ihrem wahrscheinlich berühmtesten Experiment bat sie Studierende, sich einen Bleistift zwischen die Zähne zu klemmen, bevor sie ihnen Fotos lächelnder Menschen zeigte. Dieselben Probanden, die vorher ein zur Schau gestelltes von einem echten Lächeln gut unterscheiden konnten, waren nun nicht mehr dazu in der Lage – weil sie selbst die Mundwinkel nicht mehr hochbekamen. Wer nachahmt, fühlt mit, aktiviert etwa beim Lächeln nicht nur dieselben Gesichtsmuskeln, sondern auch dieselben Hirnregionen wie sein Gegenüber.
Wer im Job dauernd lächeln muss, kann krank werden
Glücklicherweise liegt die Domäne des posierten Lächelns nicht in der Partnerschaft, sondern im Beruf. Wenn es dort dauernd gefordert wird, kann das krank machen, schreibt der Arbeits- und Organisationspsychologe Dieter Zapf von der Universität Frankfurt am Main in der Zeitschrift „Personalführung“. Stressig seien vor allem emotionale Unstimmigkeiten. Sie könnten zu Herzproblemen und Depressionen führen. Solche widerstreitenden Gefühle fand die amerikanische Soziologin Arlie Hochschild in den 1970er Jahren ebenfalls bei Dienstleistern wie Flugbegleitern, die häufig unhöfliche oder pöbelnde Fluggäste mit gleichbleibend freundlicher Miene zu beruhigen versuchen – obwohl ihnen bisweilen eher zum Heulen zumute ist.
Möglicherweise bietet die Beobachtung des philosophischen Anthropologen Helmuth Plessner Trost. Weinen und lautes Lachen markieren in seinen Augen Grenzsituationen, in denen sich der Mensch überwältigt fühlt. Lächelnd gibt er dagegen seinem Geist souverän Ausdruck. „Noch in den Modifikationen der Verlegenheit, Scham, Trauer, Bitterkeit, Verzweiflung kündet Lächeln ein Darüberstehen.“
Adelheid Müller-Lissner