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Operation am Knie
© IMAGO

Zwischen Übertherapie und blutiger Entlassung: Die Ware Gesundheit

In Deutschland wird immer häufiger operiert. Mediziner und Juristen diskutierten in Berlin darüber, ob wirtschaftliches Kalkül dahinter steht.

Eine überflüssige medizinische Untersuchung oder Behandlung kann selbst dann eine „Körperverletzung“ sein, wenn der Patient eingewilligt hat, sagt unter anderem Bernd-Rüdiger Kern, Jurist an der Universität Leipzig. Bei Operationen und eingreifenden Untersuchungen am Herz oder Knie lässt sich am ehesten abschätzen, ob eine Indikation fehlt oder fragwürdig ist. Beispiele für Fehl- und Überversorgung findet der Berliner Mediziner, Gesundheitswissenschaftler und -manager Markus Müschenich daher auch meist im Operationssaal. Er sprach jetzt auf dem 43. Symposion für Juristen und Ärzte „Patientenrechte und ärztliches Handeln“ in Berlin darüber, wie wirtschaftliche Überlegungen Therapieentscheidungen beeinflussen.

Müschenich verwies auf den enormen Anstieg der Operationszahlen in Deutschland. 2011 gab es 27 Prozent mehr chirurgische Eingriffe als 2005, etwa 10 Prozent mehr Hüft-, 23 Prozent mehr Knie- und 125 Prozent mehr Wirbelsäulenoperationen. Keine ist risikolos. Für die Beschwerden nach – oft nutzlosen – Bandscheibeneingriffen hat die Fachsprache sogar einen eigenen Krankheitsnamen: Postdiskotomiesyndrom. Im internationalen Vergleich von 2013 liegt Deutschland auch bei Prostata-, Mandel- und Gebärmutteroperationen (Kaiserschnitt) weit über dem OECD-Durchschnitt.

Zusätzlich wird jährlich über 100 000-mal an der Schilddrüse operiert – drei- bis achtmal so oft wie in den USA oder in Großbritannien. Die Patienten würden meist mit dem Hinweis auf ein Krebsrisiko zur Einwilligung gedrängt, teilte die Deutsche Gesellschaft für Endokrinologie auf ihrem letzten Fachkongress mit. Die Deutsche Gesellschaft für Chirurgie hinterfragt ebenfalls selbstkritisch, ob bei fortschreitender Kommerzialisierung der Medizin noch eine vernünftige Patientenversorgung gewährleistet ist.

Der Blick auf die wirtschaftlichen Interessen des Krankenhauses

Wie kommt es zu so vielen kostspieligen Behandlungen? An den immer älter werdenden Patienten und dem medizinischen Fortschritt allein kann es nicht liegen, meinte Müschenich. Sonst würden sich die Zahlen in Deutschland nicht derart von denen vergleichbarer Länder unterscheiden. „Vielmehr wird die Indikation zu einer Operation immer häufiger mit dem Blick auf wirtschaftliche Interessen und nicht aus medizinischen Gründen gestellt“, sagte Müschenich.

Aus dem Gesundheitswesen ist die „Gesundheitswirtschaft“ geworden, sagte zu Beginn des Symposions Paul Unschuld von der Charité. Der Gesundheitswissenschaftler, Medizinhistoriker und Pharmazeut hat dazu ein streitbares Buch geschrieben: „Ware Gesundheit“. Die dritte Auflage erschien gerade im Beck-Verlag.

Früher wurden viele Patienten zu spät aus dem Krankenhaus entlassen, denn den Kliniken wurden alle Kosten erstattet. Dann sollte es der Markt richten. Doch dieser hat versagt. Mit den „Fallpauschalen“ kam es zu einer neuen Verschwendung der knappen Mittel, dieses Mal zulasten der Patienten.

„Kriminalisten fragen nach der ‚Tatgelegenheitsstruktur’. Das Krankenhaus hat sie“, sagte Müschenich. Wenn es pro Fall bezahlt wird und Gewinn machen muss, braucht es einen schnellen Durchlauf möglichst vieler, lukrativer Fälle, einschließlich „blutiger Entlassung“.

Oft drängten die Kliniken ihre Chefärzte zu einer vertraglichen Verpflichtung, für einen Bonus bestimmte Mengen einträglicher Leistungen wie Wirbelsäulenoperationen zu erbringen. Im selben Vertrag steht, der Arzt sei bei Diagnostik und Therapie unabhängig und nur dem Gesetz verpflichtet. Ist der Arzt nun Opfer oder Täter, fragte Müschenich. Für Paul Unschuld ist er in der Gesundheitswirtschaft vom Kommerz entmündigt worden. Und Müschenich urteilt: „Mediziner haben gegen das ureigenste Prinzip ärztlichen Handelns verstoßen.“

Bisher vertrauten viel Patienten ihrem Arzt. Im Koalitionsvertrag steht nun, dass sie vor einem Eingriff eine Zweitmeinung einholen können, bezahlt von der Kasse und „regelhaft“. So wird der Kranke zum Kunden, der die „Ware Gesundheit“ vergleicht und bei der Entscheidung allein gelassen wird.

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