Hundebisse: Die unterschätzte Gefahr
Auch der Familienhund kann kleinen Kindern gefährlich werden. Nach einem Biss drohen zum Beispiel Blutverlust und eine Wundinfektion.
Es ist schnell geschehen. Ein Kleinkind sieht einen „niedlichen“ Hund und rennt begeistert auf das Tier zu. Der vermeintliche Spielkamerad versteht das als Angriff und findet es gar nicht lustig, von hinten angegangen oder am Futternapf gestört zu werden. Er beißt das Kind da, wo er es erreichen kann: in die Wange oder ins Ohr. „Praktisch jede Woche kommt ein Kind in unsere Klinik, das wegen eines Hundebisses stationär aufgenommen und in Vollnarkose behandelt werden muss“, sagt Stephan Kellnar, Chefarzt der Klinik für Kinderchirurgie am Klinikum Dritter Orden in München.
Zwei Drittel der Kinder unter vier Jahren werden an Kopf oder Hals verletzt, ihnen droht schnell ein lebensgefährlicher Blutverlust. Deshalb zählen sie oft zu den ein bis sechs Todesfällen nach Hundebissen, die das Statistische Bundesamt jedes Jahr registriert. So wie das acht Wochen alte Baby aus Cottbus, das im Jahr 2010 vom familieneigenen Husky-Schäferhund-Mischling angefallen wurde. Das Tier hatte zuvor den unbeaufsichtigten Kinderwagen umgestoßen.
Eine offizielle Beißstatistik gibt es in Deutschland nicht, doch im Nachbarland Schweiz wurde sie bis vor einigen Jahren kantonsübergreifend geführt. 2843 Vorfälle, bei denen Hunde Menschen angegriffen haben, wurden 2009 gemeldet, 16 Prozent davon betrafen Kinder unter zehn Jahren. Bei jedem zweiten war es ein Hund aus dem eigenen Umfeld, der zugeschnappt hatte, bei 14 Prozent sogar der familieneigene Vierbeiner. Eines von 2100 Kindern war betroffen, insgesamt kam ein „Beißvorfall“ auf 270 Hunde. Für Deutschland mit seinen 5,3 Millionen Hunden wäre demnach in jedem Jahr mit rund 20 000 solcher Vorfälle zu rechnen.
Statistiken aus den USA und aus Kanada, in die jedes Zuschnappen einging, kommen zu dramatischeren Ergebnissen: Glaubt man einer Studie aus der Fachzeitschrift „Canadian Family Physician“, dann hat jeder zweite Heranwachsende irgendwann einmal einen solchen unliebsamen und potenziell gefährlichen Kontakt zu einem Hund. Im „Dog Bite Fact Sheet“ der Staatlichen Gesundheitsbehörde der USA (CDC) ist von mehr als 4,7 Millionen Hundeattacken und 800 000 behandlungsbedürftigen Bissen pro Jahr die Rede – die dritte Maiwoche wurde gar zur „Nationalen Woche der Vorbeugung von Hundebissen“ erklärt. Denn im Sommer, wenn Hunde und Kinder draußen spielen, gewinnt das Thema an Brisanz.
Meist kommen Kind und Eltern glimpflich davon
In den meisten Fällen kommen Kind und Eltern mit dem Schrecken davon. „Leider können sich aber hinter äußerlich kleinen, ungefährlich erscheinenden Wunden tiefere Verletzungen verbergen“, sagt Kellnar. Im schlimmeren Fall sind nicht allein verschiedene Hautschichten, sondern auch Muskeln, Sehnen, Blutgefäße, Nerven und sogar Knochen oder innere Organe verletzt.
Dazu kommt, dass sich bis zu jede vierte Hundebisswunde mit Krankheitskeimen infiziert. Deshalb muss der Arzt überprüfen, ob das Kind gegen Wundstarrkrampf (Tetanus) geimpft ist. Die Eltern sollten den Impfpass in die Praxis des Kinderarztes oder die Notaufnahme des Krankenhauses mitbringen. Hat sich der Vorfall in einem Land ereignet, wo es noch Tollwut gibt, muss das Tier auf Tollwut untersucht werden. Dagegen ist es wohl übertrieben, allen betroffenen Kindern zur Vorbeugung von bakteriellen Infektionen ein Antibiotikum zu geben.
Wichtig ist allerdings, was die Deutsche Gesellschaft für Kinderchirurgie (DGKCH) in einer Leitlinie niederlegte: Wenn irgend möglich – und der Ästhetik nicht abträglich – sollten die Wunden nicht sofort zugenäht werden. „Wir sollten vermeiden, dass tiefe Höhlen entstehen, aus denen das Wundsekret nicht ablaufen kann“, sagt Kellnar. Bei Bisswunden im Gesicht dagegen steht die kunstvolle Rekonstruktion im Vordergrund. Das Infektionsrisiko muss dann nach dem schnellen Schluss der Bisswunde durch Antibiotika eingedämmt werden.
Die Wunde nicht selbst reinigen
Schwerwiegend sind Bisswunden bei Kindern schon deshalb, weil auch kleine chirurgische Eingriffe bei ihnen selten ohne eine Vollnarkose möglich sind. Wenn sich die Eltern auch nur etwas unsicher sind, ob behandelt werden muss, sollten sie mit dem Kind zum Arzt gehen – und vorher die Wunde nur mit einer sterilen Kompresse oder einem großen Pflaster abdecken, aber nicht versuchen, sie zu reinigen. „Oft gibt es tiefe Wundtaschen, die man von außen nicht gut erkennt und in die man mit einer speziellen Sonde hineinmuss“, erläutert Kellnar.
Was Eltern dagegen selbst tun sollten: sich gut überlegen, ob ein Hund und ein kleines Kind in ihrem Haushalt wirklich harmonisieren. Falls sie es wagen wollen, müssen sie jedes auf seine Art gut erziehen – und dürfen beide nie unbeaufsichtigt zusammen sein lassen.
Die Deutsche Veterinärmedizinische Gesellschaft (DVG) bietet mit „Der blaue Hund“ ein Lernprogramm für Kindergartenkinder und ihre Eltern zur Prävention von Hundebissen an.
Adelheid Müller-Lissner
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