Zum 100. Todestag von Paul Ehrlich: Die Suche nach der magischen Kugel
Vor 100 Jahren starb Paul Ehrlich. Seine größten Leistungen haben wenig mit seinem Nobelpreis zu tun. Denn er war nicht nur Immunologe, sondern begründete auch die moderne Pharmakologie.
Am 20. August 1915 endete eine Ära. Denn mit Paul Ehrlich starb einer der letzten Mediziner, die auf vielen verschiedenen Gebieten Herausragendes geleistet hatten. Die Zeit der Spezialisierung war längst angebrochen. Die Zeit der Wissensvermehrung durch Universalmediziner dagegen, ermöglicht durch bis dahin beispiellose methodische Fortschritte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, gepaart mit Frieden und Wohlstand, sie ging zu Ende. Ehrlich war einer ihrer letzten Protagonisten. Sein Freund Robert Koch war 1910 gestorben, Rudolf Virchow 1902, Louis Pasteur 1895. Und der Weltkrieg, dessen Anfänge Ehrlich erlebte und als Unterzeichner des propagandistischen „Aufrufs an die Kulturwelt“ unrühmlich begleitete, markierte ohnehin eine Zeitenwende.
Paul Ehrlich erlag keiner der Krankheiten, gegen die er selbst Therapien gesucht hatte, Infektionen oder Krebs etwa. Er starb an den Folgen eines Herzinfarkts und eines Schlaganfalls. Ein Kuraufenthalt in Bad Homburg konnte den Kettenraucher – er konsumierte mindestens 20 Zigarren am Tag – nicht retten.
Der 1854 in der Nähe von Breslau geborene Sohn eines Likörfabrikanten forschte auf so vielen Gebieten, publizierte so viele bis in die Gegenwart zitierte Fachartikel, dass es unmöglich ist, sein Lebenswerk an dieser Stelle umfassend darzustellen. Über Göttingen und Berlin kam Ehrlich 1899 nach Frankfurt, wo er das „Institut für Serumforschung und Serumprüfung“ leitete, das heutige Paul-Ehrlich-Institut in Langen. Bekannt ist er vor allem als Mitbegründer der Immunologie – für diese Arbeiten bekam er 1908 seinen Nobelpreis. Der Mikro- und Zellbiologe war wie kein anderer erfolgreich darin, mit Farbstoffen, die sich an spezielle Strukturen der Außenwand von Zellen anhefteten, Bakterien und Zellsorten nachzuweisen. Auch die Mikroskopie, zu seiner Zeit die wichtigste Methode der medizinischen Forschung überhaupt, verbesserte er grundlegend und war 1903 Mitautor eines Lehrbuches.
Ehrlich begründete die moderne Arzneimittelforschung
Krebsforscher kennen ihn für seine Befunde, dass Tumorzellen über die Generationen immer bösartiger werden können, und auch dafür, dass er versuchte, das Immunsystem gegen Krebsgeschwüre zu mobilisieren. Der Ansatz erlebt derzeit eine Renaissance, die ausreichen würde, um Ehrlich zu einem der weitsichtigsten Protagonisten jener Gründerzeit der modernen Medizin auszurufen. Seinen nachhaltigsten Einfluss hat er bis heute aber wahrscheinlich – und das ist weit weniger bekannt – auf einem anderen Gebiet: der Arzneimittelforschung.
Zwar wird unter Ehrlichs Leistungen immer aufgezählt, dass er mit Salvarsan das erste spezifisch gegen einen Krankheitserreger wirkende Medikament entwickelt hat. Nicht dieser medizinische Meilenstein aber, sondern die dahinter- stehende Idee machen ihn zum Begründer der modernen Pharmakologie. Ausgerechnet das geht angesichts all seiner anderen Beiträge meist unter. Dies mag auch daran liegen, dass sich einige seiner Theorien, etwa jene zur Produktion von Antikörpern im Immunsystem, irgendwann als nur teilweise stimmig herausstellten. Seine Konzepte für Erforschung und Anwendung neuer Arzneimittel dagegen haben, wie viele seiner noch heute angewandten Färbemethoden für Zellen und Mikroorganismen, den Test der Zeit ziemlich unbeschadet überstanden.
Und beides – Färbe- und Pharmamethoden – haben mehr gemein, als man denken könnte. Tatsächlich fußen Ehrlichs Ideen zur idealen Wirkung eines Arzneimittels auf nichts anderem als einer Gruppe von Färbesubstanzen, mit denen man unter dem Mikroskop zum Beispiel Nervenzellen sichtbar machen kann.
Gezielt gegen kranke Zellen vorgehen
Ehrlich erkannte als einer der Ersten, dass die gerade erst synthetisierte Gruppe von Substanzen, die bestimmte Zelltypen einigermaßen spezifisch anfärbten, nicht nur in der zytologischen Forschung enorm half. Er vermutet vielmehr ein Grundprinzip: dass jeder Zelltyp bestimmte Eigenschaften oder Strukturen hat, die nur bestimmten Substanzen eine Reaktion mit ihm ermöglichen. Das konnte eben bedeuten, dass ein Farbstoff wie Methylenblau bestimmte Bazillen gut anfärbte. Aber vielleicht konnte ein anderer – oder vielleicht sogar derselbe Stoff – durch seine Bindungs- oder Reaktionsfähigkeit ganz spezifisch diese Bazillen auch abtöten oder anders therapeutisch wirken. Tatsächlich wurde jenes Methylenblau in seinen Händen vom reinen Farbstoff zum Pharmakon, als er zwei Malariapatienten damit heilte. Es wird bis heute als Medikament etwa gegen Nitrit-Vergiftungen und gegen Schmerzen eingesetzt. Auch der Begriff „Rezeptor“ für eine Oberflächenstruktur einer Zelle, an die ein Molekül selektiv binden kann, stammt von ihm.
Eine von Ehrlichs Ideen war es, Stoffe zu synthetisieren, die Selektivität und Therapiewirkung verbanden: Molekülteil eins sollte so etwa für die spezifische Reaktion mit den krank machenden Zellen zuständig sein, Molekülteil zwei war das Gift, das die krank machenden Zellen umbrachte.
Dieses Konzept „magischer Kugeln“, die im Körper von alleine ihr Ziel finden würden, ohne auf alles andere zu schießen, ist ein Ideal, das Pharmakologen und Ärzte bis heute verfolgen. Manche Krebsmittel funktionieren inzwischen nach diesem Prinzip, unter ihnen solche, die sogenannte monoklonale Antikörper (Medikamente, deren Namen auf „-mab“ enden) nutzen, um spezielle Strukturen zu erkennen.
Der Arzt, der die Syphilis heilte
Jenes Salvarsan und kurz darauf das nebenwirkungsärmere Neosalvarsan, das Ehrlich und sein Mitarbeiter Sahachiro Hata testeten und 1910 auf den Markt brachten, war der bescheidene, aber entscheidende Anfang moderner Arzneimittelforschung. Es war das erste „Chemotherapeutikum“, also das erste synthetische Mittel, das entwickelt worden war, um auf bestimmte biologische oder biochemische Strukturen zu zielen. Im Falle von Salvarsan waren dies solche von Syphilis auslösenden Bakterien. Und diese Arsenverbindung funktionierte tatsächlich nach Ehrlichs Konzept. Sie vergiftete die Bakterien, aber nicht die Wirtszellen.
Die Arzneimittelforschung des 21. Jahrhunderts, sie beruht auf genau dem Prinzip, das Ehrlich als Erster anzuwenden versuchte: spezielle, winzig kleine Strukturen des Medikaments passen zu speziellen, winzig kleinen Strukturen an oder in Zellen oder an Molekülen. Heutzutage wird kein Medikament mehr zugelassen, wenn nicht der genaue molekulare Mechanismus bekannt ist. Das können schlichte Andockmechanismen an Zelloberflächenmoleküle sein, aber auch chemische Reaktionen innerhalb von Zellen, die verschiedene Folgen haben können. Den zellulären Selbstmord etwa oder aber Zellteilung, Ausschüttung von Botenstoffen oder von Anti-Zellstress-Molekülen und vieles mehr.
Die Arzneimittelforschung der Gegenwart beruht noch auf einem weiteren Ehrlich'schen Paradigma: Substanzen, die sich als Medikament eignen könnten, an erkrankten Tieren zu testen. Ehrlich galt zudem als fast pedantisch bezüglich des Wiederholens von Versuchen. Ergebnisse von Experimenten mussten endgültig abgesichert werden, koste es, was es wolle. Darin kann der Mann, dessen Grab sich auf dem Jüdischen Friedhof in Frankfurt befindet und über den 1940 sogar ein Hollywood-Film gedreht wurde, noch ein echtes Vorbild für Forscher sein.
- Ehrlichs Werk wird bis zum 27. September in der Ausstellung „Arsen und Spitzenforschung“ im Medizinhistorischen Museum der Berliner Charité gewürdigt. Campus Mitte; Dienstag bis Sonntag 10 bis 17 Uhr, Mittwoch und Samstag bis 19 Uhr.