Mit Giftködern und Schlagfallen: Die Staatsfeinde
Für Knopfaugen und weiches Fell haben neuseeländische Naturschützer nichts übrig. Sie führen einen Kreuzzug gegen eingeschleppte Säugetiere wie Possums, Hermeline und Ratten. Denn die bedrohen eine einzigartige Vogelwelt.
Im Lichtkegel der Scheinwerfer fällt ein dunkler Schatten auf die Fahrbahn. Ein Blick genügt, dann hält der Autofahrer genau auf das Tier zu. Wer die neuseeländische Natur liebt, bremst nicht für Säugetiere. Erst recht nicht für ein Possum (auf Deutsch: Fuchs-Kusu). Auf den beiden Inseln im Südpazifik gelten die Beuteltiere als Staatsfeinde. Denn sie verwüsten nicht nur Gärten und Blumenbeete. Sie fressen ganze Wälder kahl und stehlen Eier.
Neuseelands Natur ist ein einzigartiges Experiment der Evolution. Weitab von Kontinenten und Inseln entwickelte sich über 80 Millionen Jahre eine Lebenswelt, in der Säugetiere – abgesehen von Fledermäusen und Meeressäugern – keinen Platz hatten. Statt Mäusen gibt es Weta, 70 Gramm schwere Langfühlerschrecken. Die meisten anderen ökologischen Nischen besetzten Vögel, etwa die riesigen Moas, die bis zu 230 Kilogramm wogen. Vielleicht würde die ganze Erde so aussehen, wenn vor 65 Millionen Jahren nicht nur die Dinosaurier, sondern auch die Säugetiere ausgestorben wären, schrieb der australische Biologe Tim Flannery.
Auf jeden Neuseeländer kommen mehr als sechs Possums
Dann kam der Mensch. Die Maori, die vor 800 Jahren auf ihren Auslegerkanus die Inseln erreichten, brachten Ratten als Fleischlieferanten mit. Außerdem jagten sie die Moas, bis zum letzten Exemplar. Als James Cook 1779 als erster Europäer Neuseeland entdeckte, sangen die Vögel trotzdem noch so laut, dass seine Mannschaft kaum die Segelkommandos hören konnte. Heute ist in den Naturreservaten allenfalls ein leises Echo dieses morgendlichen Chores zu hören. Ein Viertel der heimischen Vogelarten ist bereits ausgelöscht. Sogar der Kiwi, Neuseelands Nationalvogel, ist bedroht. Vielen Pflanzen erging es ähnlich.
Die Siedler versuchten, am anderen Ende der Welt ein zweites England zu kreieren. Hirsche, Ziegen, Igel und Katzen gehörten für sie selbstverständlich dazu. Um einen Fellhandel zu etablieren, importierten sie 1858 die in Australien heimischen Possums. Doch außer den menschlichen Fallenstellern hat das Tier keine Widersacher. Heute bevölkern 30 Millionen Possums Neuseeland. Aus der Wolle des Beuteltiers werden noch immer Schals, Mützen und Handschuhe gefertigt. Die Kaninchen, die die Europäer auf der Insel freigelassen hatten, verursachten einen Dominoeffekt. Bereits in den 1870er Jahren hatten sich die Tiere so stark vermehrt, dass die Bauern um ihre Ernte fürchteten. Also holten sie Hermeline und Wiesel ins Land, natürliche Feinde der Kaninchen. Nun vermehrten sich die Marder – und entpuppten sich als Eierdiebe. Nach nur sechs Jahren brachen die Bestände einiger Vogelarten ein.
Flügel wurden kaum benötigt - die Evolution hat sie weggespart
Die Vögel Neuseelands kennen zwar Feinde in der Luft, aber nur wenige auf dem Boden. Flügel waren für die Flucht oft nicht nötig, viele Arten sparten sie im Laufe der Evolution ein. Andere Vogelfamilien wie die nur in Neuseeland lebenden Lappenvögel können zwar fliegen, hüpfen aber lieber über den Waldboden und durchs Geäst. Selbst Luftakrobaten bauen ihre Nester im Gras oder in den unteren Etagen der Vegetation. Dort sind ihre Eier leichte Beute für Invasoren wie Ratten, Hermeline und Wiesel. Zumal der Geruch der Vögel die Räuber zusätzlich anzieht.
Kommen die Vögel in Bedrängnis, können ganze Ökosysteme kippen. Arten wie der Tui und der Maori-Glockenhonigfresser ernähren sich nicht nur von Nektar, sondern bestäuben dabei Blüten. Andere Vögel wie die Maori-Fruchttaube verbreiten die Samen vieler Pflanzen. Die Gewächse sind den gefräßigen Säugern ebenfalls ausgeliefert. Schließlich kamen sie Jahrmillionen ohne besonderen Schutz gegen solche Feinde aus.
Die meisten Neuseeländer sind im Naturschutz aktiv
Das Phänomen, dass invasive Arten einheimische Pflanzen und Tiere verdrängen, gibt es überall auf der Welt. Doch auf Neuseeland ist die so entstandene Krise härter und die Reaktion darauf konsequenter. Von den 4,5 Millionen Einwohnern sind die meisten in einer Naturschutzgruppe organisiert. Ganze Nachbarschaften, selbst Schulkinder, engagieren sich. Kinderbücher warnen vor Igeln als „Serienmördern“. Und mit Fallen und Giftködern versuchen staatliche Naturschützer, die bedrohlichen Eindringlinge zurückzuschlagen.
Fast 120 kleine Inseln vor der Küste sind immer noch oder erneut frei von Raubtieren. Dort überleben zum Beispiel die letzten 150 Exemplare des Kakapos, des einzigen flugunfähigen Papageien auf der Welt. Diesen Lebensraum sollte man auch auf den ungleich größeren Hauptinseln schaffen, sagte der neuseeländische Physiker Paul Callaghan kurz vor seinem Tod im Frühjahr 2012. „Unser Wald war noch nie so still. Wir sollten all die verdammten Marder, Ratten und Possums loswerden.“
Wenn der Stahlbügel herunterkracht, bleibt nicht viel übrig
Die Ausrottung der kleinen Räuber auf größeren Landmassen halten viele Experten für eine verrücke Idee, auch wenn sie so viele wie möglich töten wollen. Tommy Herbert, der sich für die neuseeländische Naturschutzbehörde Department of Conservation (DoC) auf der Coromandel-Halbinsel um den Schutz des Kiwi kümmert, legt ein Hühnerei in eine längliche Falle. Er spannt eine kräftige Feder, die einen Stahlbügel hält. Schleicht sich ein Hermelin oder ein Wiesel durch ein Loch zu der scheinbar leichten Beute, löst das Raubtier die Spannfeder aus. „Damit ist sein Schicksal besiegelt“, sagt Herbert. Er hält eine saftige Karotte in die Falle. Der Stahlbügel kracht auf die vordere Hälfte des Gemüses, nur ein paar Fasern und Saft bleiben übrig. Nicht anders ergeht es einem kleinen Raubtier.
Fallen sind teuer, gibt Phil Seddon von der Otago-Universität in Dunedin auf der Südinsel Neuseelands zu bedenken. Der Wildbiologe untersucht mit Computermodellen, wie DoC-Mitarbeiter im Eglinton-Tal auf der Südinsel den Kaka-Papagei retten können, der dort lautstark rufend durch die Regenwälder fliegt und der seit 2005 als „gefährdet“ gilt. Die Ranger stellen seit den 1990er Jahren ein dichtes Netz solcher Schlagfallen auf, in die sie Hermeline locken. Ohne sie hat der Kaka kaum eine Überlebenschance, zeigen die Berechnungen. Allerdings erreichen die Ranger die Fallen oft erst nach etlichen Stunden oder Tagen Fußmarsch durch den Regenwald. Alle zwei Wochen müssen sie die Eier austauschen und die Fallen kontrollieren. Das gelingt zwar im Eglington-Tal, das mit 500 Quadratkilometern etwa halb so groß ist wie Berlin. Das gesamte Land ist jedoch 500 Mal größer. Selbst die Waldschutzgebiete sind deutlich größer als die Schweiz. Ein flächendeckendes Fallenprogramm wäre kaum bezahlbar. Schon gar nicht, wenn damit auch noch Ratten bekämpft werden sollen.
Giftköder nach dem Vorbild der Natur
Dann bleibt nur noch „1080“. So nennen die Neuseeländer die Verbindung Natriumfluoracetat. Es ist eine chemisch abgewandelte Form eines Gifts, das mindestens 40 Pflanzenarten in Australien, Südamerika und Afrika bilden, um sich gegen Säugetiere zur Wehr zu setzen. Die Substanz unterbricht den Zitronensäurezyklus und damit die zentrale Energieversorgung der Zellen von Säugetieren. Fressen Ratten oder Possums einen Köder, der 1080 enthält, fallen sie innerhalb weniger Stunden ins Koma und sterben. „Weil die Kadaver der Ratten auch Hermelinen schmecken, werden die Marder gleich mit erwischt“, sagt Colin Giddy.
Der DoC-Spezialist leitet seit 2010 ein Programm, das den Schutz der Artenvielfalt in den Tararua-Bergen auf der Nordinsel mit 1080 verbessern soll. Jeder Köder wiegt sechs Gramm, gerade 0,15 Prozent davon sind 1080. Eine Umweltgefährdung schließen die Naturschützer aus. Natriumfluoracetat ist wasserlöslich und zerfällt in der Natur alsbald in unschädliche Substanzen. Darüber hinaus ist die eingesetzte Menge in den vergangenen Jahren deutlich zurückgegangen. Wurden in den 1970er Jahren noch zehn Kilogramm dieser Köder auf einen Hektar eingesetzt, war es 2013 nur noch ein Kilo.
Ratten werden auf die Leckerbissen trainiert
Punktgenau werfen Helikopter-Besatzungen mithilfe des Satellitenortungssystems GPS die Köder ab. Einige Wochen bevor Vögel wie die letzten Kaka-Papageien brüten, gewöhnen sie die misstrauischen Ratten mit harmlosen Leckerbissen an die Fütterung. Kurz vor Brutbeginn folgen die 1080-Köder. Kleine Papptunnel, die die Ranger zuvor in der Region verteilt haben, messen den Erfolg. Denn am Eingang tappen die Tiere über eine Art Stempelkissen. Vor dem Abwurf der Giftköder finden die DoC-Mitarbeiter in 60 Prozent der Tunnel die Pfotenabdrücke von Ratten, danach sind es nur noch 0,5 Prozent. „Die Ratten wurden stark dezimiert“, sagt Giddy. Selbst ein Jahr nach der Giftköder-Aktion waren deutlich weniger Nagetiere unterwegs: In 20 Prozent der Tunnel fanden sich Fußspuren. Nebenbei trifft 1080 auch Hermeline und Possums.
In den Tararua-Bergen machen sich die Possums unter anderem über die Fuchsien her. Werden sie immer wieder kahlgefressen, sterben die Bäumchen nach einiger Zeit. „1080-Köder verringern diese Mortalität immerhin um 27 Prozent“, berichtet Giddy. Auch die Vogelwelt kann sich dank des Kontrollprogramms erholen. Von den Küken der letzten 1200 Blauen Enten überleben normalerweise gerade 30 Prozent. Mit den Ködern sind es 88 Prozent.
Ein Judas verrät den Jägern, wo die Ziegenherde zu finden ist
Ähnlich sieht es bei fünf Kiwi-Arten aus, die auf kräftigen Beinen, mit winzigen Stummelflügeln und langem Schnabel in den Waldböden nach Käfern und Würmern suchen. Nur zwölf Prozent der Küken des Nördlichen Streifen-Kiwis werden erwachsen, der Bestand schrumpft Jahr für Jahr um zwei Prozent. Bekämpfen die Naturschützer aber die kleinen Räuber, schaffen es immerhin 47 Prozent der Küken. Die Population beginnt sich langsam wieder zu erholen.
Die Ziegenplage in den Tararua-Bergen dagegen bekämpfen die Naturschützer mit einem Judas. Er verrät, wo die Tiere grasen: „Zunächst rüsten wir eine Ziege mit einem Halsbandsender aus und lassen sie frei“, sagt Giddy. Ziegen sind gesellig, das Tier läuft bald zu seinen Artgenossen. Der Sender meldet daher nicht nur den Aufenthaltsort der Judas-Ziege, sondern den einer ganzen Herde, die sonst in den dichten Wäldern des Gebirgsrückens kaum zu finden wäre.
Hirsche fressen den seltenen Takahes das Gras weg
Große oder kleine Säugetiere, Räuber oder reine Vegetarier – sie alle stören ein Gleichgewicht. Das zeigt auch das Beispiel der Takahe. Die gänsegroße Rallenart mit blau schillerndem Gefieder und roten Schnäbeln galt in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts als ausgestorben. 1948 erlebte sie eine Auferstehung von den Toten, als der Hobby-Ornithologe Geoffrey Orbell eine kleine Gruppe Takahes in den Murchison Mountains auf der Südinsel Neuseelands entdeckte.
In diese unwirtlichen Berge verirrt sich kaum ein Mensch. Siedlungen, Straßen oder Wanderwege gibt es dort keine. Der Umstand, dass die Gegend kaum zugänglich ist, schützte die letzten 500 Takahes jedoch wenig. Die Zahl der Vögel, die mit ihren Stummelflügeln nicht fliegen können, nahm immer weiter ab. „Heute wissen wir, dass mehrere Faktoren den Takahes zu schaffen machen“, sagt der Zoologe Glen Greaves, der sich bei der DoC um die Rettung dieser Art kümmert. Hermeline und Ratten fressen ihre Eier und den Nachwuchs. Und Hirsche fressen den Takahe das Tussock-Gras weg und entziehen ihnen damit die Nahrungsgrundlage. 1982 zählten Naturschützer nur noch 118 dieser Vögel in Neuseeland und damit auf der ganzen Welt.
Die meisten Einwohner sind mit den Aktionen einverstanden
Jäger können große Tiere wie Hirsche, Schweine und Ziegen in Schach halten. In den vergangenen 30 Jahren ging die Zahl der Hirsche von einigen tausend auf nur noch 400 zurück, berichtet Greaves. So bleibt mehr Futter für die Takahes.
Auch wenn die rigorose Bekämpfung von Säugetieren Europäer erst einmal entsetzt: Die Fallen und Giftköder sind anscheinend der einzige Weg, diese Vogelwelt vor dem Untergang zu bewahren. Der größte Teil der Neuseeländer steht hinter den Naturschützern. Damit der Morgenchor wieder etwas lauter wird.