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©  Wort & Bild Verlag - Gesundheitsmeldungen/obs

Probleme der Schulen in der Pandemie: „Die Politik hat zu wenig Gas gegeben“

Wer verantwortet Unterricht für alle Schüler, digitale Bildung und Gesundheitsschutz? Ein Streitgespräch zwischen Heinz-Peter Meidinger und Thomas Sattelberger.

Wer ist Schuld an der Misere an den Schulen in Pandemiezeiten? Darüber diskutiert Heinz-Peter Meidinger, seit 2017 Präsident des Deutschen Lehrerverbandes (DL) und bis zum Sommer diesen Jahres Schulleiter des Robert-Koch-Gymnasium in Deggendorf, mit Thomas Sattelberger, der seit 2017 für die FDP im Deutschen Bundestag sitzt. Sattelberger ist fachpolitischer Sprecher seiner Fraktion für Innovation, Bildung und Forschung.

Herr Meidinger, kapituliert der Deutsche Lehrerverband vor Corona?
MEIDINGER: Keineswegs. Wir nehmen unsere Verantwortung für unsere Mitglieder und für gute Bildung wahr und mischen uns deshalb aktiv in die Debatten über Schule in Zeiten der Pandemie ein.

Herr Sattelberger, der Kapitulationsvorwurf stammt von Ihnen. Sie haben ihn neulich gemacht, als Herr Meidinger die Möglichkeit eines zusätzlichen Schuljahres vorschlug, um den coronabedinguten Unterrichtsausfall zu kompensieren.
SATTELBERGER: Und dabei bleibe ich, Herr Meidinger! Mit Ihrem Vorschlag waren Sie gefährlich nah dran, das laufende Schuljahr vorschnell aufzugeben. Indem Sie Schülern nahelegen, sie könnten ja freiwillig in kleineren Klassen ein Jahr dranhängen, tun sie diesen nur oberflächlich betrachtet einen Gefallen. In Wirklichkeit senden Sie das Signal in Richtung Schulen und Bildungspolitik: Es ist schon in Ordnung, wenn Ihr jetzt den Druck rausnehmt.

Dabei müsste die Botschaft jetzt lauten: Wir nehmen alle Kraft zusammen, um den täglichen Präsenzunterricht aufrechtzuerhalten und gleichzeitig alles zu tun, damit Schule unter möglichst sicheren Hygienebedingungen stattfinden kann.

"Wir wollen das Schuljahr nicht verloren geben"

MEIDINGER: Ich kann nicht sehen, warum die Forderung, den Schülern keine dauerhaften Nachteile aus der Krise entstehen zu lassen, nicht in deren Interesse liegen soll. Wir wissen, dass wir in der Zeit des Fernunterrichts im Frühjahr längst nicht alle Schüler erreicht haben, dass es schwierig war, alle Schüler gleichermaßen zu motivieren und die Lerndefizite zum Teil groß waren. Wir wollen das Schuljahr nicht verloren geben, wir lassen auch keinen Druck aus dem Kessel, obschon der gewaltig ist in den Schulen.

Wir dürfen aber auch nicht die Augen vor der Größe der Herausforderung verschließen. Ein bisschen Zusatzförderung durch Lehrkräfte, von denen sich viele, wie eine aktuelle DAK-Studie zeigt, ohnehin schon jenseits der Belastungsgrenze befinden, wird nicht reichen.

SATTELBERGER: Das ist aber doch trivial, Herr Meidinger, dass es Schüler geben wird, die das Jahr wiederholen müssen. Das konnten sie schon immer.

MEIDINGER: Sie tun es aber meist nicht, weil sie nicht aus ihrer Klassengemeinschaft herauswollen. Und das müssten sie nach meinem Vorschlag nicht, sie blieben in einer Lerngruppe mit mehreren ihnen bekannten Schülern zusammen.

SATTELBERGER: Außerdem bleiben Sie die Antwort schuldig, wo all die zusätzlichen Lehrer herkommen sollten – inmitten eines nie da gewesenen Lehrermangels.

MEIDINGER: Ein großer plötzlicher Lehrermehrbedarf entstünde doch gar nicht, weil sich dadurch ad hoc gar keine Vermehrung der Schülerzahlen ergibt.

"Sie legen eine fragwürdige Lösung auf den Tisch"

SATTELBERGER: Ich schätze Sie sehr, Herr Meidinger! Aber Sie legen eine fragwürdige Lösung auf den Tisch, bevor wir überhaupt das Problem kennen. Um maßgeschneiderte Angebote für Schüler zu machen, müssen wir zuerst wissen, wie sich deren Lernstände seit Ausbruch der Pandemie tatsächlich entwickelt haben. Aber diese systematischen Erhebungen hat es in den meisten Schulen bislang gar nicht gegeben.

MEIDINGER: Es kann und darf aber doch nicht unter Anspruch sein, jetzt einfach die Standards abzusenken oder den Lehrplan nur lückenhaft zu behandeln, damit alle irgendwie durchkommen. Klar gibt es immer Verzichtbares, aber in Mathe können Sie nicht einfach sagen: Dann machen wir halt kein Bruchrechnen oder verzichten auf Funktionsgleichungen.

Heinz-Peter Meidinger, Präsident des Deutschen Lehrerverbands.
Heinz-Peter Meidinger, Präsident des Deutschen Lehrerverbands.
© dpa

Am Mittwochabend haben Bund und Länder sich auf neue Corona-Beschlüsse verständigt. Ihre Bilanz, Herr Meidinger?
MEIDINGER: Gemischt. Was wir vom DL gut finden, ist dass die Politik Maßnahmen an den Schulen endlich wieder von konkreten Inzidenz-Zahlen abhängig machen will. Dass viele Kultusminister zuvor ihre eigenen Stufenpläne außer Kraft gesetzt und sie alle sich nicht an die Vorgaben des Robert-Koch-Instituts (RKI) gehalten hatten, war falsch.

Es ist also ein Fortschritt, dass jetzt zum Beispiel bei deutlich mehr als 50 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohnern innerhalb von sieben Tagen überall eine Maskenpflicht im Unterricht ab Klasse sieben gilt. Wir hätten uns das ab Klasse fünf gewünscht, aber gut. Was ich kritisch finde: dass der Inzidenzwert, ab dem der Regelunterricht ausgesetzt werden soll, mit 200 viermal so hoch liegt wie vom RKI gefordert.

Welcher Wert wäre angemessen?
MEIDINGER: Das kann ich Ihnen nicht sagen, ich bin kein Mediziner und kein Epidemiologe. Aber was ich Ihnen sagen kann: Solche Werte dürfen Politiker nicht frei erfinden, 200 erscheint mir als viel zu hoch!

Sind die Schulen überhaupt in der Lage, digitalen Unterricht zu gewährleisten?
MEIDINGER: Das Kernproblem ist, dass im Frühjahr, als es mit Corona losging, die Politik bei der Digitalisierung der Schulen trotz gegenteiliger Beteuerungen zu wenig Gas gegeben hat. Erst hat sie ewig gebraucht, um den Wechselunterricht in Gang zu setzen, und als die Schulen wieder im Corona-Regelbetrieb waren, haben die Kultusminister aus völlig realitätsfern gehofft, die Pandemielage werde schon nicht die Stufe drei im KMK-Stufenplan verlangen – den digitalen Fernunterricht.

"Schulen woanders haben längst die Fähigkeit entwickelt"

SATTELBERGER: Ziemlich am Anfang der Krise bin ich mal mit BLLV-Chefin Simone Fleischmann aneinandergeraten, als ich mit der mir eigenen Dringlichkeit digitalen Nachhilfeunterricht in den Ferien anmahnte – natürlich für alle: Kultusbürokratie, Lehrer, Schüler. Ziemlich vorausschauend damals! Wenn ein reflektierender Praktiker auf so eine Idee kommt, denke ich immer, dann müssten die Profis das doch schon längst im Griff haben.

In den vergangenen Monaten bin ich dann immer tiefer eingestiegen in die Thematik: Schulen in anderen Ländern haben die Fähigkeit entwickelt, bei Bedarf von Präsenz auf Hybrid oder Distanz zu switchen und zurück. Allerdings hatten sie damit auch schon vor zehn oder mehr Jahren angefangen. Soweit konnten wir nach Deutschlands Tiefschlaf in ein paar Monaten nicht kommen. Aber es muss schon unser Ehrgeiz sein, dass die Schulpflicht zugleich ein Recht auf qualitativ hochwertigen Digitalunterricht umfasst – nicht nur in Präsenz, sondern auch in Distanz, wenn nötig. Dafür müssen sich alle Beteiligten endlich bewegen: Länder, Bund, Schulträger – und auch die Lehrer. Und zwar jetzt; nicht erst irgendwann „nach Corona“.

Thomas Sattelberger, Mitglied der FDP-Bundestagsfraktion.
Thomas Sattelberger, Mitglied der FDP-Bundestagsfraktion.
© Doris Spiekermann-Klaas

MEIDINGER: Über den Handlungsbedarf sind wir uns einig, Herr Sattelberger. Aber bei den Adressaten ihrer Appelle sollten Sie genauer hinschauen. Es ist die Politik, es sind die Schulträger. Den meisten Schulen fehlt es an der grundsätzlichen IT. Ich hatte das Glück, bis zum Sommer Leiter in einem vor drei Jahren neu erbauten Gymnasium zu sein, mit kompletter Infrastruktur, mit digitaler Tafel und schnellem Internet. Das Technische war insofern bei uns nicht das Problem, aber Videokonferenzen, Bildungsplattformen – mit sowas hatten wir keine Erfahrung. Es fehlte an entsprechenden Fortbildungen, es mangelte aber auch an entsprechenden digitalen Werkzeugen.

Wir stehen da in Deutschland am Anfang, in jeder Hinsicht. Darum ist es richtig, dass Bund und Länder jetzt bei hohen Fallinzidenzen konsequente Maßnahmen etwa zur Wiederherstellung des Mindestabstands fordern, bei der Umsetzung den Schulen aber Spielräume lassen.

Sehen Sie den großen Digital-Schub durch Corona? Oder ist das ein Strohfeuer, das mit der Pandemie vorbeigeht?
SATTELBERGER: Bill Gates hat vor ein paar Jahren gesagt, das 21. Jahrhundert werde ein Jahrhundert der Pandemien sein. Das mag reißerisch formuliert sein, aber auch ich halte das gegenwärtige Gerede von einer „Jahrhundertkrise“ für falsch. Der Begriff suggeriert, bis 2099 würde eine vergleichbare Situation nicht mehr auftreten. Wir brauchen jetzt eine hellwache Gesellschaft, wir brauchen hellwache Schulen, die wann immer nötig von einem Betriebszustand in den anderen hinüberswitchen können.

Und auch ohne Krise bleibt die Nutzung digitaler Medien im Unterricht unverzichtbar, um eine wesentliche Kulturtechnik des 21. Jahrhunderts einzuüben. Weshalb ich auch die Lehrer und die Schulleitungen nicht aus der Verantwortung lasse. Natürlich muss die Politik den Rahmen bieten.

Schule in Coronazeiten - zumeist noch in Präsenz statt digital.
Schule in Coronazeiten - zumeist noch in Präsenz statt digital.
© Gregor Fischer/dpa

Welchen Rahmen meinen Sie?
SATTELBERGER: Der reicht vom Wlan über Mailadressen für Lehrer, Endgeräte für Lehrer und Schüler, die zur digitalen Lernmittelfreiheit gehören müssen – bis hin zu einem angemessenen, aber unaufgeregten Umgang mit dem Datenschutz. Ich habe mich übrigens, Herr Meidinger, gefreut, als Sie mal in einem Interview gesagt haben: wir sollten bei der Nutzung von Bildungsplattformen in Datenschutz-Fragen nicht 150-prozentig vorgehen. Manchmal kommt es mir so vor, als polierten die Datenschützer in der Küche das Silberbesteck, während die Hütte brennt.

"Schulen erkennen ihre innovative Kraft"

MEIDINGER: Wir haben entdeckt, welche Vorteile es bringen kann, wenn Schüler untereinander und die Lehrer sich mit ihren Schülern digital vernetzen. Beklagt wurde früher oft, dass in Lehrerkollegien zu wenig Kommunikation und fachlicher Austausch stattfinde. Auch da kann eine bessere digitale Vernetzung sehr hilfreich sein. Es wird jetzt, glaube ich, keiner mehr sagen, die Digitalisierung sei keine Chancen für die Schulen. Überhaupt haben die Schulen in dieser Pandemie gemerkt, welche innovative Kraft in ihnen steckt.

Sie sind beide für Ihre Zuspitzungen bekannt. Nehmen Sie damit nicht auch bewusst in Kauf, in den Medien verkürzt wiedergegeben zu werden?
MEIDINGER: Sie haben mich ja auch kritisiert wegen meiner Schätz-Zahl von 300.000 in Quarantäne befindlichen Schülern…

…die alle Schlagzeilen rauf und runtergelaufen ist…
MEIDINGER: …aber die von der KMK später präsentierte Zahl von 198.000 gaukelte auch eine Schein-Objektivität vor. Ich glaube, meine Wortmeldung war ein notwendiger Weckruf, und schauen Sie, welche Diskussion entstanden ist über den unzureichenden Gesundheitsschutz an Schulen. Und die war überfällig! Also ja, ich versuche mich immer mal wieder an plakativen Sprüchen, dahinter steckt aber immer ein sachlicher Grund. Das sehen sicher nicht alle so. Sogar meine Frau sagt auch manchmal: Hättest du dich da nicht mal zurückhalten können.

SATTELBERGER: Das mit dem Weckruf gefällt mir gut, Herr Meidinger. Manchmal braucht es einen klotzigen Spruch, um eine feinziselierte Debatte loszutreten.

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