Alternative Fakten: Die falsche Verklärung des Gelehrten Ibn al-Haytham
Bei der Berliner "Science Week" wird eine Ausstellung über einen islamischen Wissenschaftler gezeigt. Aber sie biegt die Wahrheit zurecht, sagen Kritiker.
Wenn es um eine gute Story geht, dann soll man sich möglichst nicht von Fakten stören lassen. Dieses Zitat wird wahlweise Mark Twain oder Tiger Woods zugeschrieben. Mitte nächster Woche startet, begleitend zur „Falling Walls“-Konferenz, die „Berlin Science Week“. Geplant sind 60 Veranstaltungen, und mit zehn Tagen ist sie auch etwas länger als nur eine Woche. Über diese kleine Abweichung von den Fakten schon im Namen hat sich bislang niemand beschwert. Ein Teil dieser zehn Wissenschaftstage allerdings zieht bereits im Vorfeld Kritik auf sich: die Ausstellung „Ibn al-Haytham – The Man Who Discovered How We See“.
„Die Macher sind bereit, für die Geschichte, die sie erzählen wollen, historische Fakten beziehungsweise das Fehlen echter Nachweise weitgehend zu ignorieren“, sagt die Mathematikerin und Historikerin Sonja Brentjes vom Berliner Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte. Und Organisatoren und Geldgeber, unter anderem das Bundesforschungsministerium, seien „offenbar bereit, das auszublenden“.
Junge Muslime sollen inspiriert werden
Die „Macher“, das ist die britische Initiative „1001 Inventions“, ein gleichnamiges Unternehmen und die dahinter stehende Stiftung für Wissenschaft, Technologie und Zivilisation (Foundation for Science, Technology and Civilisation, FSTC) aus Manchester. Geleitet wird letztere von Mohamed el-Gomati, einem emeritierten in Libyen geborenen Professor für Elektroingenieurswesen an der Universität York, und Salim al-Hassani, ebenfalls emeritierter Ingenieurswissenschaftler, allerdings von der Universität Manchester und gebürtiger Iraker.
Ziel ist es, die Beiträge von Wissenschaftlern islamischen Glaubens in früheren Jahrhunderten einem breiten Publikum nahezubringen. Junge Muslime sollen „inspiriert“ und für Wissenschaft und Technologie interessiert werden.
Darin ist man seit mehr als einem Jahrzehnt nach eigenen Angaben extrem erfolgreich, vor allem durch die Ausstellung „1001 Inventions“ („tausendundeine Erfindung“) und ein gleichnamiges, vom amerikanischen „National Geographic“-Verlag publiziertes Buch. Für Videoproduktionen gewann man Stars wie Omar Sharif (beworben mit „Sein letzter Auftritt“) und Oscar-Preisträger Ben Kingsley. Die dort erzählten „inspirierenden“ Geschichten allerdings, sagt Brentjes, seien voller „Glorifizierungen und Reklamationen wissenschaftlicher Erstleistungen“, für die es nur wenige verlässliche historische Belege gebe.
Leistungen angeblicher Flugpioniere nicht belegt
Die Expertin für Mathematik, Kartografie und Wissensaustausch in islamisch geprägten Gesellschaften vor 1700 ist mit ihrer Kritik nicht allein. Der türkisch-amerikanische Physiker Taner Edis etwa hat in einem Fachartikel nachgewiesen, dass die Leistungen der als Flugpioniere dargestellten Ibn Firnas (9. Jahrhundert) und Hezarfen Celebi (17. Jh.) einerseits physikalisch kaum möglich waren, andererseits durch Quellen nicht belegt sind. Auch die Darstellung, hier seien in einem historisch kontinuierlichen Prozess die Grundlagen aller modernen Luftfahrt gelegt worden, sei unhaltbar.
In dem Sammelband „1001 Distortions: How Not to Narrate History of Science, Medicine, and Technology in Non-Western Cultures“ (Ergon 2016) haben Wissenschaftler noch einige weitere Fehler, Ungenauigkeiten und steile Thesen aufgelistet. Rainer Brömer, Medizinhistoriker an der Universität von Istanbul, etwa seziert dort die These, der in Syrien geborene Ibn al-Nafis habe bereits im 13. Jahrhundert den Lungen-Blutkreislauf beschrieben. Für ihn sind solche Behauptungen nicht nur ein sachliches Problem. Tatsächlich könnten derartige Darstellungen zwar vielleicht zunächst Begeisterung bei Muslimen für Leistungen ihrer Glaubensbrüder aus früheren Jahrhunderten auslösen. Letztendlich seien sie schulterklopfend und damit „herablassend gegenüber Muslimen“. Und, ergänzt Brentjes, diese auch beim besten Willen nicht wegzudiskutierenden falschen Darstellungen und das wahrscheinlich gut gemeinte, politisch motivierte Darüberhinwegsehen etwa seitens der Berliner Science-Week-Organisatoren spielten „islamophoben Verschwörungstheoretikern in die Hände“.
Wissenschaftlicher Fortschritt ist ein komplizierter Prozess
Die tatsächlichen Leistungen von Wissenschaftlern, Mathematikern, Medizinern und Übersetzern aus dem Griechischen in muslimisch geprägten Gesellschaften seien bedeutend und erforschungswürdig genug. „Nur ist das eben alles ein bisschen komplexer und komplizierter, als es diese Erzählungen von Erstleistungen und Einzelhelden und auch von durch die Religion bedingter Überlegenheit nahelegen – und durchzogen von Brüchen“, sagt Brentjes.
Der Erfolg von Initiativen wie „1001 Inventions“ und nach Ansicht der vom Tagesspiegel befragten Fachleute ähnlich problematischen Ausstellung „Sultans of Science“ (MTE Studios, Dubai) reicht offenbar bereits weit hinein in die Bildungssysteme mancher Staaten. Ein türkischer Wissenschaftshistoriker, der ungenannt bleiben möchte, sagt, Studenten in der Türkei etwa seien bereits „sehr in dieser Art von Denken verhaftet“. Es sei schwer, sie dazu zu bringen, „kritisch und objektiv über Geschichte nachzudenken“. Überhöhende und falsche Darstellungen der Leistungen osmanischer und islamischer Forscher und Entdecker seien auch in den kürzlich überarbeiteten Lehrplänen in der Türkei vermehrt zu finden.
Von einer "simplistischen Glorifizierung" sprechen Kritiker
Die Ausstellung, die in Berlin gezeigt wird, stellt nach Angaben von Fachleuten, die sie bereits anderswo gesehen haben, Ibn al-Haytham als den „Vater der experimentellen Optik“ (so wird er auch im Buch „1001 Inventions“ genannt) dar. Eine „simplistische Glorifizierung“ nennt Brentjes diese Darstellung.
Tatsächlich gehe nicht nur die experimentelle Optik mindestens bis zu Ptolemäus (2. Jh. n. Chr.) zurück. Auch al-Haythams Arbeiten selbst fußten auf denen muslimischer und christlicher Vorgänger. Seine bedeutende Theorie der Optik habe auf diesen basiert, aber ebenso auf „aristotelischen Konzepten, euklidischer Geometrie und der religiös-philosophischen Schule der Mu’tazila“.
Diese verfügbaren Fakten und ihr Zusammenspiel inklusive der bleibenden offenen Fragen – all das klingt ein bisschen komplex und kompliziert. Eine simple Story kann man aus ihnen sicher nicht stricken. Eine gute aber vielleicht schon.
Jürgen Mlynek, ehemaliger Direktor der Helmholtz-Gemeinschaft und heute Cheforganisator der Science Week, äußert sich, mit der Kritik konfrontiert, so: Die Berlin Science Week biete nur „ein Dach“ für Veranstaltungen mit Wissenschaftsbezug. „Dabei ist uns wichtig – ganz im Geiste von Berlin als Symbolort der Freiheit – die Berlin Science Week als offene Plattform in einer offenen Gesellschaft zu verstehen.“ Doch könne es natürlich auch bezogen auf die Frage, „welche Form der Vermittlung und Vereinfachung angemessen ist“, zu Kontroversen kommen.
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