Nationalsozialismus: „Die Erinnerung schmerzt, doch sie befreit“
NS-Verbrechen in Griechenland: Berichte von Zeitzeugen sind jetzt in einem Online-Archiv abzurufen.
Als Efstathios Chaitidis neun Jahre alt war, ermordeten deutsche Soldaten nahezu seine gesamte Familie. Am 23. April 1944 überfielen die Deutschen sein Heimatdorf Pyrgoi im Norden Griechenlands. Sie erschossen die Männer des Dorfes, die Frauen und Kinder trieben sie in Scheunen und verbrannten sie bei lebendigem Leib. „Mein Vater und ich konnten uns retten. Doch meine Mutter, meine Großmutter und meine vier Geschwister starben in den Flammen“, erzählte Chaitidis am Montag in der Berliner Topographie des Terrors. Gemeinsam mit Wissenschaftlern der Freien Universität und der Nationalen und Kapodistrias-Universität Athen stellte er dort – auf den Tag genau 74 Jahre nach dem Massaker von Pyrgoi – ein Online-Archiv mit Erinnerungen von Zeitzeugen an die deutsche Okkupation in Griechenland vor.
Von 1941 bis 1944 wurde Griechenland von Deutschland besetzt. Während der Okkupation wurden 60.000 griechische Juden deportiert und ermordet, knapp 50.000 griechische Zivilisten fielen sogenannten Vergeltungsmaßnahmen wie dem Massaker von Pyrgoi zum Opfer, mehr als 100.000 Menschen verhungerten. Die Massaker der Deutschen an der griechischen Zivilbevölkerung gelten als besonders grausames Kapitel des Zweiten Weltkriegs, dennoch sind sie in Deutschland immer noch kaum bekannt.
Das Archiv sei überfällig
Mit dem digitalen Archiv soll sich das ändern. „Erinnerungen sind ein kostbarer, aber auch vergänglicher Schatz“, sagte Michael Roth, Staatsminister für Europa im Auswärtigen Amt. Es sei überfällig, Berichte von griechischen Zeitzeugen aufzuzeichnen und zugänglich zu machen. Lange Zeit sei in Deutschland zu wenig an die Verbrechen der deutschen Besatzung in Griechenland erinnert worden. „Doch ohne gemeinsames Gedenken und Erinnern kann Versöhnung nicht gelingen“, sagte Roth. Dem stimmte Theodoros Daskarolis, der griechische Botschafter in Deutschland, zu: „Die Zerstörung aus der Zeit der deutschen Besatzung hat Griechenland bis heute gezeichnet.“ Deshalb sollte die Pflege der Erinnerungskultur ein essentieller Bestandteil der deutsch-griechischen Beziehungen sein. Das digitale Archiv sei mit den Berichten aus erster Hand ein wichtiger Beitrag hierzu.
In den letzten zwei Jahren führten Wissenschaftler der beiden Universitäten 91 Video-Interviews mit griechischen Zeitzeugen über die deutsche Besatzung, ihr Leben davor und danach. Finanziert wurde das Projekt aus Mitteln des Deutsch-Griechischen Zukunftsfonds des Auswärtigen Amts, der Stavros Niarchos Foundation und der Stiftung Erinnerung, Verantwortung, Zukunft. Bei den interviewten Zeitzeugen handelt es sich beispielsweise um griechische Widerstandskämpfer, Zwangsarbeiter, Überlende des Holocausts und der von den Deutschen verübten Massaker, aber auch Zeugen von Bombenangriffen.
Die Interviews wurden aufwendig bearbeitet
Die Interviews sind nun in voller Länge auf www.occupation-memories.org/de zu sehen. Sie wurden aufwendig mit deutschen Untertiteln versehen, vollständig transkribiert und ins Deutsche übersetzt. Zu jedem Zeitzeugen gibt es eine Kurzbiographie, Fotos aus verschiedenen Lebensabschnitten und eine Karte, auf der die im Interview erwähnten Orte verzeichnet sind.
Das Archiv steht nicht nur Wissenschaftlern offen, sondern allen Interessierten. Um auf die Interviews und das Zusatzmaterial zugreifen zu können, ist eine Registrierung mit den Kontaktdaten und eine Zustimmung zu den Nutzungsbedingungen notwendig.
Der griechische Botschafter Theodoros Daskarolis sagte: „Es ist eine Angelegenheit von Bildung. Ohne Wissen um das begangene Unrecht kann es keine Versöhnung geben. Die Erinnerung schmerzt, doch sie befreit auch.“
Doch auch das Thema Reparationszahlungen gehört für viele Griechen zur Vergangenheitsbewältigung. „Der Schmerz unserer Erinnerungen ist erst anerkannt, wenn Deutschland eine Entschädigung zahlt“, sagte Giorgos Lazouras, Bürgermeister von Kalavryta. 1943 ermordete die Wehrmacht einen Großteil der Bevölkerung Kalavrytas und zerstörte das Dorf. Bisher war die Bundesregierung jedoch nicht zu Reparationszahlungen bereit.
Nicht alle Deutschen wussten von den Verbrechen in Griechenland
Trotz des durch die Deutschen erlittenen Leids hat Efstathios Chaitidis eine enge Bindung an Deutschland. Weil er in den 1950er Jahren in Griechenland aufgrund seiner politischen Einstellung nicht studieren konnte und ihm das Geld für ein Studium in Großbritannien oder Frankreich fehlte, ging er 1959 zum Zahnmedizinstudium nach München. Als er sich nach einiger Zeit der deutschen Familie, bei der er wohnte, anvertraute und ihr von dem Massaker der Deutschen in seinem Heimatdorf erzählte, war er erstaunt: „Ich merkte, dass nicht alle Deutschen von den Verbrechen der Nazis wussten und dass es sie schockierte, als sie davon hörten. Das war erleichternd. Von da an fühlte ich mich freier in diesem Land.“