Artenschutz: Die Botschaft der Rosa Delfine
In Südamerika gibt es sie noch: Flussdelfine. Eine Reportage über Forscher, Aktivisten – und Finnen mit Sendern.
Kaum ist die Finne aus dem bräunlichen Wasser aufgetaucht, rast das Boot heran. Es zieht einen Kreis. Ein Fischer wirft ein Netz aus, Männer springen ins brusthohe Wasser. Sie schließen das Netz. Der Delfin schlägt bald an einer Stelle mit der Schwanzflosse. Er hat sich in den Maschen verfangen. Die Männer packen ihn. Fünf Fischer sind nötig, um das Tier auf eine Sandbank zu tragen. Ein sechster drückt das lange, schnabelförmige Maul mit den scharfen Zähnen zu. Rosa Stellen an Kopf und Unterseite werden sichtbar.
Ein Leben für die Delfine
Die brutal anmutende Aktion dient der Rettung des sagenumwobenen Amazonasdelfins, der aufgrund jener Pigmentierung oft auch Rosa Delfin genannt wird. Die Rote Liste für gefährdete Arten führt ihn als „vom Aussterben bedroht“. Daher wollen der „World Wide Fund for Nature“ (WWF) und die kolumbianische Nichtregierungsorganisation Omacha jetzt insgesamt 50 Flussdelfine mehrerer Unterarten in fünf Ländern mit GPS-Sendern bestücken. In Brasilien und Bolivien begann das Projekt. Nun wird es hier im Südosten Kolumbiens am Orinoko fortgeführt.
„Wir haben ideale Bedingungen, um die Tiere zu fangen“, sagt Fernando Trujillo, Meeresbiologe und Leiter des Projekts. Wegen der Trockenheit liegt der Wasserspiegel des Orinoko rund 15 Meter unter dem der Regenzeit und die Delfine haben sich in flachen Buchten zum Fischejagen versammelt. „Sie schlagen sich die Mägen voll“, sagt Trujillo.
Der 50-jährige Kolumbianer gilt weltweit als wichtigster Flussdelfin-Experte. Vor dreißig Jahren riet ihm der Meeresbiologe und Filmemacher Jacques Cousteau zu der Spezialisierung. „Die Delfine haben mich seitdem nicht mehr losgelassen“, sagt er. Später gründete er Omacha, um Süßwassersäuger zu erforschen und zu schützen.
Quecksilber im Fluss - und in den Delfinen
Trujillo will das Projekt, bei dem es zuerst um das Anbringen der GPS-Sender geht, auch nutzen, um Gewebeproben zu entnehmen. Diese sollen auf ihren Quecksilbergehalt untersucht werden. Das hochgiftige Schwermetall ist eine der größten Bedrohungen für die Amazonasregion. In unzähligen illegalen Goldgewinnungsanlagen wird es benutzt, um das Edelmetall zu binden. Tonnenweise gelangt es dabei in die Flüsse. In manchen Indio-Dörfern hat man derart hohe Quecksilberkonzentrationen bei Kindern festgestellt, dass schwere Entwicklungsstörungen und frühzeitiger Tod absehbar sind. „Es kommen Babys mit sechs Fingern zur Welt“, sagt Trujillo. „Manche Indios haben Gedächtnisverlust und Nervenstörungen, sie können nicht mehr riechen und schmecken.“
Das Amazonasbecken beherbergt den größten Urwald der Erde und 20 Prozent der weltweiten Süßwasservorkommen. Aber es ist kein unberührtes Paradies mehr, sondern ein wachsender Wirtschaftsraum mit mehr als 30 Millionen Einwohnern. Diese konsumieren Energie, Nahrung, brauchen Infrastruktur und Arbeit. Wissenschaftler wie der US-Biologe Thomas Lovejoy und der brasilianische Klimatologe Carlos Nobre glauben, dass das Limit der Expansion bald erreicht sein könnte und das ökologische Gleichgewicht bedroht ist. Sie sehen diesen Umkipp-Punkt bei 20 bis 25 Prozent Abholzung. Dann würde der komplexe Wasserkreislauf der Region versagen – mit unvorhersehbaren Folgen für Südamerika. Trujillo sieht den Sympathieträger Flussdelfin daher auch als Chance, mehr Bewusstsein für die Bedrohungen zu schaffen. „Er könnte zum Botschafter des Amazonas werden“, sagt er.
Kleine Augen, die kaum etwas sehen können
Der Biologe packt nun mit an, das gerade gefangene Tier auf eine Matratze zu wuchten. Sie soll das hohe Gewicht des Delfins, das auf seine Lunge drückt, verteilen helfen. Kaum liegt er, breiten Mitarbeiter nasse Handtücher über ihm aus, die sie ständig mit Wasser tränken. Um das Tier zu beruhigen, bedecken sie auch die Augen, die kaum größer als Stecknadelköpfe sind und nur Schemen wahrnehmen. Amazonasdelfine orientieren sich, ähnlich wie Fledermäuse, über ein komplexes Ultraschallsystem. Aus der hohen Stirn senden sie Schallsignale aus. Deren Echos fangen sie dann mit Rezeptoren im Unterkiefer auf und setzen so in Sekundenbruchteilen ein Bild ihrer Umgebung zusammen. So lokalisieren die Delfine auch ihre Beute.
Eine Mitarbeiterin Trujillos drückt nun auf eine Stoppuhr und ruft: „Zehn Minuten!“ Mehr Zeit hat das Team nicht. „Die Delfine könnten es auch deutlich länger an Land aushalten“, erklärt sie, „aber wir wollen sie nicht unnötig stressen.“ Eine eingespielte Prozedur beginnt. Die Veterinärin misst mit einem Stethoskop den Herzschlag: „Im grünen Bereich!“ Dann beobachtet sie das Atemloch, das sich gerade öffnet und wieder schließt. Atmet der Delfin nicht mindestens drei Mal pro Minute, steht er unter großem Stress. Die Forscher müssten dann abbrechen. Bisher aber lässt er alles entspannt über sich ergehen.
Bevor der schwierigste Teil kommt – das Anbringen des GPS-Senders – wird der Delfin vermessen und das Geschlecht bestimmt. Es ist ein Weibchen, 2,14 Meter lang. „Schöner Brocken!“, ruft Trujillo. Dann entnimmt die Veterinärin Laura Jaramillo Ortiz Sekretproben aus Maul, Atemloch, After und Vagina. Sie schneidet auch ein winziges Stück aus der Schwanzflosse. Es wird dazu dienen, die Quecksilberbelastung festzustellen.
GPS-Sender in die Finne geschraubt
Dann presst die Veterinärin drei Betäubungsspritzen in die Finne, also die Rückenflosse des Tiers. „Man kriegt das Zeug kaum rein, so fest ist das Gewebe“, sagt sie. Nun wird ein Loch hineingebohrt und Trujillo schraubt den Sender an der Finne fest. Er soll über 280 Tage lang Koordinaten des Tieres übertragen.
Für die Delfinkuh ist die Prozedur nun vorbei. Sie wird noch gewogen, dann werden die 180 Kilo zurück zum Fluss getragen. Dort haben die Fischer einen zweiten, kleineren Delfin gefangen. Trujillo entscheidet, ihn an Land zu holen, um Daten aufzunehmen. „Wahrscheinlich ist es das Junge der Kuh“, sagt er.
Plötzlich wird es hektisch. Das Tier atmet nicht. Es quiekt, wahrscheinlich ein Zeichen von Angst. Trujillo entscheidet, die Aktion abzubrechen. Einen Sender kriegen Jungtiere ohnehin nicht, weil sie mit den Müttern unterwegs sind.
Als das Junge zurück zum Fluss getragen wird, winkt Trujillo einige Kinder herbei, die sich neugierig vom Ufer genähert haben. Sie gehören zu einer der Fischerfamilien, die entlang des Flusses leben. Trujillo animiert sie, das Junge zu berühren. „Die Fischer“, sagt er, „nennen die Delfine böse Tiere – animales malos –, weil sie Netze zerreißen.“ Die Kinder hätten deshalb oft Angst vor ihnen. Das will Trujillo durch den Kontakt ändern.
Delfine als Anzeiger für eine intakte Flussflora
Später an Bord eines der typischen Langboote, die in der Amazonasregion zum Nahverkehr dienen, erläutert er die Bedeutung des Projekts. „Wir wollen sehen, wie sich die Tiere innerhalb des riesigen Stromsystems bewegen.“ Männchen könnten in jahrelanger Wanderung 1000 Kilometer zurücklegen. Die Weibchen seien hingegen sesshafter und lebten in Rudeln. Anhand ihrer Aufenthaltsorte möchten Trujillo und der WWF den Regierungen der sieben Amazonasanrainer Vorschläge machen, welche Regionen besonders schützenswert sind. „Wo die Delfine sich aufhalten, sind auch viele Fische“, sagt er. „Und wo viele Fische sind, ist auch die Flussflora besonders in Ordnung.“ Der Delfin ist so ein Anzeiger für ein intaktes Ökosystem, das auch nachhaltig Lebensgrundlage für Menschen sein kann.
Zwar würde Trujillo gerne ganze Flüsse unter Schutz stellen, doch das mache keine Regierung. Trujillo sieht sich nicht als radikalen Umweltschützer, sondern als Realisten. Man müsse den Menschen in Amazonien Entwicklungsmöglichkeiten bieten. Eine Idee ist der Aufbau eines Delfintourismus.
2007 erhielt Trujillo den renommierten Whitley Award, den „Grünen Nobelpreis“. Kürzlich war er Protagonist im Dokumentarfilm „A River Below“, der die Schwierigkeiten thematisiert, die Naturschützer bei dem Versuch haben, die Interessen von Mensch und Umwelt zu versöhnen.
Mehrere zehntausend Rosa Delfine schwimmen im Amazonas - noch
Der WWF schätzt die Zahl der Rosa Delfine im Amazonasbecken auf 37.000. Eine stattliche Zahl, verglichen etwa mit dem chinesischen Flussdelfin, vom dem seit Jahren kein einziges Exemplar mehr gesehen wurde. Doch auch für den Rosa Delfin sind die Bedrohungen vielfältig.
Als eine der größten nennt Trujillo die 124 Wasserkraftwerke der Region. Weitere 277 sind nach WWF-Informationen geplant. Sie zerstören Wälder, unterbrechen Flüsse, führen zur Ansiedlung von Menschen in einem Radius von 40 bis 100 Kilometern. Es werden Straßen gebaut, die neue Rodungen nach sich ziehen. „Ohne die Bäume sterben auch die Flüsse“, sagt Trujillo. „Sie versanden, werden flacher, die Wasserkreisläufe versagen, es wird trockener und die Reproduktionszyklen kommen zum Stillstand.“
Eine weitere Gefahr ist die Jagd. Tausende Tiere wurden in den vergangenen Jahren getötet. Ihr fettes Fleisch dient als Köder zum Fang des Silberantennenwelses. Der ist ein beliebter Speisefisch in Kolumbien. Ende 2017 allerdings verbot die Regierung seine Kommerzialisierung wegen zu hoher Quecksilberwerte. „Es war ein indirekter Sieg für den Flussdelfin“, sagt Trujillo. Er hatte als einer der Ersten vor dem Schwermetall gewarnt. Der Fischindustrie passte das nicht. Trujillo erhielt Morddrohungen. „Der Amazonas ist immer stärker in der Hand von Konzernen“, sagt er. Die Regierungen seien schwach oder abwesend. „Die Zukunft der Region ist unsicher.“
Zurückgekehrt von den Göttern am Flussgrund
Am Abend kehrt das Team in die Forschungsstation unweit des Städtchens Puerto Carreño zurück. Vier Delfine hat es „besendert“, drei Kälber registriert. „Es lief richtig gut“, sagt Trujillo. Manchmal dauere es tagelang, die Tiere zu finden.
Die Dunkelheit bricht über dem Orinoko herein und ein sternenklarer Himmel spannt sich auf. Feuerschein wird auf der venezolanischen Seite des Flusses sichtbar. Wald wird dort gerodet. Trujillo sitzt auf einem Uferfelsen und erzählt von den Legenden der Ureinwohner. In einigen gelten die Delfine als Götter, die in Städten auf dem Flussgrund leben. Es sind Ertrunkene, die sich in Menschen zurückverwandeln können und manchmal an Land kommen. Trujillo selbst wurde von Indios schon für so ein Wesen gehalten. Er sei zurückgekehrt, sagten sie, um den Menschen die Botschaft der Delfine zu überbringen.