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Horn von Afrika. Früher waren Nashörner in Asien und Afrika weitverbreitet. Inzwischen gehören einige Arten zu den bedrohtesten Säugetieren der Welt.
© Aaron Amat - Fotolia

Bedrohte Artenvielfalt: Keiner stirbt für sich allein

Mücken und Läuse mögen lästig erscheinen. Doch ein globales Artensterben ungeheuren Ausmaßes bedroht die ökologische Vielfalt und unser eigenes Überleben. Warum jede Art zählt.

In Mitteleuropa kommen 3000 verschiedene Schmetterlingsarten vor, jede dritte ist vom Aussterben bedroht. Weltweit sind rund ein Drittel aller Frösche und ein Drittel aller nacktsamigen Pflanzen vom Aussterben bedroht. Nicht anders steht es um ein Fünftel aller Säugetierarten und Fische sowie um mehr als ein Zehntel aller Vogelarten.

Ist das schlimm? Brauchen wir alle diese Arten wirklich? Die Frage mag ketzerisch klingen. Doch wird sie immer häufiger gestellt. Auf Zecken können wir nun wirklich verzichten, und keiner weint einer Wanze oder Stechmücke hinterher. Wozu sind sie überhaupt gut? Lohnt es sich, Arten zu schützen, die es von allein nicht schaffen, sich anzupassen?

Unlängst vertrat sogar ein Biologe die provokante Meinung: „Der Natur ist das völlig egal, ob die heutigen Arten massenhaft aussterben, Landschaften verschwinden, ganze Ökosysteme umkippen und das Antlitz der Erde dabei wieder einmal umgekrempelt wird.“ In der Rezension seines Buches zum Thema titelte eine Zeitung dann scheinbar folgerichtig, dass wir vorm Artensterben überall auf der Erde keine Angst haben müssten.

Wer so denkt, sitzt einem gewaltigen Irrtum auf. Keineswegs unschuldig daran sind Evolutionsbiologen. Denn immer wieder betonen sie, dass Artentod und Aussterben in der Erdgeschichte seit jeher dazugehören. Wie die Entstehung neuer Arten ist deren Sterben tatsächlich ein ganz natürliches Ereignis; das Kommen und Gehen von Arten ist an der Tagesordnung, gleichsam der biologische Normalfall. Keine Art lebt ewig; nach ein bis maximal zehn Millionen Jahren sei Schluss, schätzt etwa der Evolutionsökologe Robert May. Überhaupt sind nur ein Prozent aller Arten heute noch am Leben, die Mehrzahl aller jemals auf der Erde vorkommenden Arten ist längst ausgestorben.

Fünf große Massensterben haben Evolutionsforscher aus den Zeugnissen vom Werden und Vergehen der Arten im Fossilbefund ermittelt. Aus jedem dieser einschneidenden Ereignisse, so ihr Fazit, ist das Leben gestärkt hervorgegangen. Auf ein Massensterben folgte jedes Mal ein Evolutionsschub und Aufschwung der Artenvielfalt – die Natur fährt Achterbahn. Einzig der Wandel hat Bestand und die Geschichte des Lebens gleicht einem Fortsetzungsroman, in dem sich während einzelner Episoden zwar die Hauptdarsteller abwechseln, die Geschichte aber weitergeht. Erst als die Dinosaurier verschwanden, konnten die Säugetiere ihre Chance nutzen.

Aussterben und Überleben sind mithin zwei Seiten derselben Medaille und in jeder globalen Lebenskrise steckten immer auch neue evolutive Chancen. Beim sechsten, dem derzeitigen Artensterben aber hat das Aussterben eine neue Qualität angenommen. Nicht nur weil es in kürzester Zeit von nur wenigen Jahrzehnten und Jahrhunderten abläuft und von weltweiter Dimension ist. Der entscheidende Unterschied diesmal sind wir – der Mensch. Dank unserer unaufhaltsamen Vermehrung und unverminderter Plünderung aller natürlichen Grundlagen sind wir mittlerweile zum bestimmenden Evolutionsfaktor geworden.

In den vergangenen 500 Jahren gingen 130 Vogelarten verloren

Seit der Globalisierung, die mit Kolumbus und der europäischen Eroberung von Kolonialreichen vor 500 Jahren begann, hat sich das Artensterben vervielfacht. Wie in der Schilderung der Pest von Albert Camus begann es unmerklich, mit einigen wenigen Toten. Mittlerweile sind die Zahlen erschreckend; aber wir verschließen noch immer die Augen vor dem Artentod.

Vor allem bei den Vögeln weiß man es genau: 130 der weltweit 10 064 Vogelarten gingen in fünf Jahrhunderten unwiederbringlich verloren, vier weitere kommen in freier Wildbahn nicht mehr vor, 197 Arten werden als vom Aussterben bedroht geführt, für 15 Arten konnten in jüngster Zeit keine Nachweise mehr erbracht werden. Bevor der Mensch auf den Plan trat, haben Forscher rekonstruiert, dürfte etwa eine Vogelart in hundert Jahren ausgestorben sein. Inzwischen müssen wir von einer ausgelöschten Vogelart pro Jahr ausgehen.

Allerdings sind Vögel ebenso wie Säugetiere denkbar schlechte Modelle für Sterbeszenarien. Zwar haben wir die besten Zahlen für diese gut untersuchten Tiergruppen, und viele Schutzbemühungen konzentrieren sich gerade auf sie. Doch die überwiegende Mehrzahl der Arten, die aussterben, sind unbekannt. Die meisten Tierarten haben nicht einmal einen wissenschaftlichen Namen; von ihrem Verschwinden bekommen die meisten Menschen nichts mit. Beim sechsten, dem von uns allen verursachten Artensterben geht es nicht um den letzten Flussdelfin in China oder den Tiger im tropischen Regenwald. Es geht um ein anonymes Riesenheer an Tierarten, das für immer von der Erde verschwindet.

Noch besorgniserregender als die schiere Zahl ist der Umstand, dass das Artensterben früher meist isoliert auf kleinen Inseln lebende und daher natürlicherweise besonders gefährdete Arten betraf: den Dodo auf Mauritius, einen Kleidervogel auf Hawaii. Inzwischen aber weitet sich das Sterben der Arten auf weniger geografisch begrenzte, zunehmend intensiv genutzte Lebensräume kontinentalen Ausmaßes aus. Inzwischen ist das Überleben selbst weitverbreiteter Arten gefährdet; überall da, wo wir Natur zerstören – und das tun über sieben Milliarden Menschen weltweit immer mehr: Wir zerstören tropische Regenwälder, zerstückeln Lebensräume, überfischen und vergiften Meere und drehen überdies unablässig an der Klimaschraube.

Längst gefährden wir unsere eigene Existenz. Was uns endlich zur Frage zurückbringt, ob wir jede Art auf der Welt wirklich brauchen. Tatsächlich zählt jede Spezies, unabhängig davon, ob sie lästig wie eine Laus, schädlich wie ein Schmarotzer oder hübsch wie eine Haubentaube ist. Drei wichtige Gründe kennen Evolutionsökologen, warum das Artensterben auch für uns letztlich tödlich ist:

1. Jede Art ist ein einmaliger und unersetzlicher Speicher genetischer Informationen: Mit jeder ausgestorbenen Art geht möglicherweise ein biologischer Schatz verloren, Rohmaterial für zukünftige biotechnologische Produkte, die synthetisch niemals herzustellen sein werden – von der Ernährung über Schädlingsbekämpfungsmittel bis hin zu medizinisch wirksamen Substanzen aus Pilzen, Pflanzen, Insekten oder anderen Tieren. Aus Käfern und Kegelschnecken können wir neue Wirkstoffe gegen Parasiten und andere Schädlinge gewinnen, eine Pflanzenart könnte zur Nahrung oder zum Energieliferanten werden. Jede Art ist bereits ein erprobtes Überlebenskonzept auf diesem Planeten; aus ihr kann ein Überlebensrezept auch für den Menschen werden.

Fehlen Beerenfresser, wird die Pflanze nicht mehr verbreitet

2. Der Verlust selbst einzelner Arten hat für ganze Ökosysteme unabsehbare Folgen: Einzelne Schlüsselarten sind für den gesamten Lebensraum entscheidend; fehlen sie, sind am Ende einer Kaskade ökologischer Auswirkungen ganze Ökosysteme bedroht. So lässt etwa die Ausrottung einer Baumart zugleich Dutzende Vogelarten verschwinden, weil diese gerade in nahrungsarmen Perioden nur durch deren Früchte überleben. Umgekehrt sind viele Pflanzenarten von spezialisierten Bestäubern abhängig; fehlen plötzlich bestimmte Insekten- oder Vogelarten, bedeutet ihr Aussterben auch das Ende ganzer Pflanzengemeinschaften. Fehlen Beeren fressende Arten, wird auf diese Weise der Samen von Pflanzen nicht mehr verbreitet; fehlen insekten- und Spinnen fressende Vögel, können einzelne dieser Arten überhandnehmen; rotten wir Greifvögel aus, fehlen die natürlichen Aasentsorger. Jeder Ausfall eines Kettengliedes hat gravierende Langzeitfolgen.

Jedes Ökologielehrbuch ist voll von Beispielen über delikate Beziehungen in der Natur. Die Erforschung der Naturgeschichte hat uns gezeigt, wie riskant es ist, in das überaus feingeknüpfte ökologische Beziehungsgefüge einzugreifen – egal, wo. Jeder Aquariumsbesitzer weiß um das delikate Gleichgewicht im Becken. Und er weiß auch: Je kleiner der Lebensraum und je weniger Mitspieler, desto eher kippt das System um.

3. Artenvielfalt ist die Versicherung für Krisenzeiten: Wie Börsenkurse verfolgen Biologen Anstieg und Abfall der biologischen Artenvielfalt auf der Erde während der Erdgeschichte. Tatsächlich ist biologische Vielfalt wie Geldvermögen; die Währung dabei sind Arten. Und in beiden Fällen gilt: Jeder Rückgang ist ein Verlust, jeder Kurseinbruch bedroht die Bilanz; hält der Trend an, drohen Zahlungsunfähigkeit und Insolvenz. Nur ein vielfältiges Portfolio ist eine weise Anlagestrategie. So, wie Banker und Politiker mittels Stützungskäufen und Rettungsschirmen versuchen, die Finanzmärkte ins Lot zu bringen und Kurse zu stabilisieren, versuchen Natur- und Umweltschützer, Lebensräume zu erhalten und das Aussterben von Arten zu verhindern.

Lange haben Forscher über Artenvielfalt in ökologischen Systemen gegrübelt und erkannt, dass zwischen der Stabilität eines Ökosystems und der Anzahl der darin vorkommenden Arten ein enger Zusammenhang besteht: Je größer die Organismenvielfalt, desto geringer wirkt sich eine Umweltkatastrophe aus. Tatsächlich werden natürliche Störungen von artenreichen Ökosystemen besonders gut aufgefangen; diese reagieren berechenbarer als ein artenarmes System. Ökologen wissen aber auch, dass ab einem gewissen Schwellenwert die Widerstandsfähigkeit nicht weiter zunimmt. Dieser Schwellenwert jedoch liegt nur knapp unter der jeweils höchsten festgestellten Artenvielfalt in einem Lebensraum. Das bedeutet: Bereits wenn nur einige wenige Arten verloren gehen, kann das System kippen und schnell zusammenbrechen.

Das allgegenwärtige Artensterben ist auch ein kultureller und ästhetischer Verlust. Nicht nur, dass viele (leider nicht alle) Menschen eine ethische Verantwortung für die Schöpfung und eine moralische Verpflichtung empfinden, das Lebensrecht jeder anderen Art zu achten. Jede Art ist auch von unersetzbarem ästhetischen Wert.

Für das Leben auf der Erde ist es nicht zwingend notwendig, die Artenvielfalt von heute zu erhalten. Doch für uns ist es kein Trost zu wissen, dass die Natur die Katastrophe eines fatalen sechsten Massensterbens auch diesmal irgendwie überleben wird, dass einzelne Arten – seien es Ratten oder Kakerlaken – schon durchkommen werden. Denn wir selbst werden nicht mehr dabei sein.

Der Autor arbeitet als Evolutionsbiologe am Berliner Naturkundemuseum.

Je mehr Arten in einem Ökosystem leben, umso stabiler ist es und umso besser meistert es Krisen, sagen Forscher. Außerdem geht mit jeder Art ein Schatz an Genen und Stoffen verloren, die in der Medizin oder Technik eine Rolle spielen könnten.

Laut Forschern verschwand früher etwa alle hundert Jahre eine Vogelart von der Erde. Seit der Mensch auf den Plan getreten ist, ist die Zahl dramatisch gestiegen. In den letzten 500 Jahren sind mindestens 130 Vogelarten ausgestorben.

Wissenschaftler haben die Verbreitung besonders einzigartiger und gefährdeter Säugetierarten kartiert. Ihr Fazit: Große Gebiete sind noch nicht geschützt.

Matthias Glaubrecht

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