Klimawandel: Der Wald der Zukunft
Dem Wald geht es gut, befanden Forscher bei der Bundeswaldinventur. Damit das trotz des Klimawandels so bleibt, muss er jedoch vielfältiger werden.
Martin Guericke hat sich extra eine Försterjacke mit Hirschknöpfen übergestreift. „Nur für Sie“, sagt er augenzwinkernd und marschiert los. Es geht in den Wald, direkt neben der Hochschule für nachhaltige Entwicklung in Eberswalde, wo Guericke am Fachbereich Wald und Umwelt forscht. Baumkronen wiegen im Wind, unter den Sohlen knatschen welke Blätter. Es riecht nach feuchtem Holz. 100-jährige Buchen stehen Geleit.
Der Wald, ein deutscher Mythos. Seit der Romantik gilt er als Gegenteil des Gepflegten, als wild, natürlich, unverwechselbar deutsch. Doch diese Sehnsuchtslandschaft muss mehr leisten. Rohstoffe liefern, Erholung bieten, Lebensraum spenden und das Klima schützen. Um den Wald der Zukunft zu planen, wird regelmäßig Inventur gemacht. Alle zehn Jahre ziehen dazu Expertenteams – ausgestattet mit GPS-Geräten, Tablet-PCs, Ultraschall- und Laser-Abstandsmesser – in die Berge. Mehr als 420 000 Bäume werden so gezählt und vermessen.
In Deutschland bedecken 90 Milliarden Bäume ein Drittel der Fläche
Im Oktober veröffentlichte das Landwirtschaftsministerium die Ergebnisse der Bundeswaldinventur. Dem deutschen Wald geht es gut. Die rund 90 Milliarden Bäume, die ein Drittel der Fläche des Landes bedecken, sind älter und vielfältiger geworden. Die Nadelbaum-Monokulturen der Nachkriegszeit machen allmählich Platz für Mischwälder. Und die Fläche nimmt zu, zuletzt um 50 000 Hektar. Mehr als je zuvor.
Das ist nicht unbedingt ein Erfolg des Naturschutzes. Stickstoffverbindungen, die in der Landwirtschaft zum Düngen eingesetzt werden oder in Industrie und Privathaushalten entstehen, reichern sich in den Waldböden an. Hinzu kommt der Klimawandel. Es wird etwas wärmer, die Vegetationszeit wird länger. Und der Stoff, aus dem die Bäume sind, befindet sich in höherer Konzentration in der Atmosphäre. Durch mikroskopisch kleine Spaltöffnungen an ihren Blattoberflächen nehmen die Bäume das Treibhausgas Kohlendioxid aus der Luft auf, spalten es mittels Photosynthese und speichern den Kohlenstoff als Biomasse.
Forscher der Technischen Universität München konnten das schnellere Wachstum nachweisen, 600 000 Baummessungen seit 1870 haben sie dafür ausgewertet. Im Fachjournal „Nature Communications“ schreiben sie, dass sich Buchen um 77 Prozent schneller entwickeln als 1960, Fichten um 32 Prozent.
Die schlechte Nachricht: Das durch Kohlendioxid bedingte Waldwachstum ist nicht in jedem Fall gesund. „Die Bäume sind nicht besonders stabil“, sagt Heinrich Spiecker, der Leiter des Instituts für Waldwachstum an der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg. Das Holz der schnell in die Höhe geschossenen Fichten zum Beispiel ist weicher und bricht leichter in einem Sturm.
Während sich Weltpolitiker und Wissenschaftler noch über Ausmaß und Bekämpfung des Klimawandels streiten, kann man bereits die negativen Folgen für den Wald und sein ökologisches Gleichgewicht beobachten. Bäume treiben früher aus, sind dann aber längeren Dürrephasen im Frühjahr und Sommer ausgesetzt. Die Niederschläge verschieben sich in den Winter – außerhalb der Vegetationsphase. Wenn die Schneedecke fehlt, frisst das Wild die Rinden stärker an. Schädlinge wie der Eichenprozessionsspinner machen sich hierzulande breit. Der Borkenkäfer vermehrt sich umso stärker, je wärmer es wird.
Der Wald ist ein gigantischer Kohlenstoffspeicher - auch künftig?
In den vergangenen vier Jahrzehnten haben die Waldschäden durch Wind, Feuer und Borkenkäfer in ganz Europa sehr zugenommen. Das errechnete ein internationales Team um Rupert Seidl und Werner Rammer vom Institut für Waldbau der Universität für Bodenkultur in Wien anhand von Waldschadensmeldungen. Beim Fortschreiten der Erderwärmung würden die Schäden weiter ansteigen, schreiben die Forscher im Fachjournal „Nature Climate Change“.
Die Wissenschaftler befürchten einen Rückkopplungseffekt: Die Wälder der Welt bedecken rund 30 Prozent der Landoberfläche des Planeten und sind ein gigantischer Kohlenstoffspeicher. Ein geschädigter Wald könnte diese Funktion nicht mehr so gut erfüllen. Und entlassen die Wälder mehr Kohlendioxid, beschleunigt das wiederum die Erderwärmung.
„Wir wissen zwar, wie Bäume in der Vergangenheit auf Klimaveränderungen reagiert haben. Wenn wir aber einen Klimawandel erleben, den es bisher nicht gab, dann sind die Beziehungen zwischen Baum und Klima trotzdem unbekannt“, warnt Spiecker, der seit Jahrzehnten zum Thema forscht. Er ist davon überzeugt, dass man bereits heute an einigen Stellen ein Waldsterben beobachten kann.
Waldsterben. War da nicht etwas in den 80ern? Der Göttinger Bodenkundler Bernhard Ulrich vermutete damals Luftschadstoffe als Ursache. Der Spiegel titelte „Saurer Regen über Deutschland. Der Wald stirbt.“ Die Horrorszenarien rüttelten auf, die Politik steuerte gegen. Industrieanlagen bekamen Filter, Autos Katalysatoren, Hubschrauber verstreuten Kalk über den Waldböden.
Ob das "Waldsterben" eine echte Gefahr war, darüber gehen bis heute die Meinungen auseinander
Das ist mehr als 30 Jahre her. Der deutsche Wald steht immer noch und die Wissenschaftler streiten, warum das so ist. Einer, der bei Bernhard Ulrich studiert hat und auf den gemeinsamen Exkursionen in den Harz und im Solling Baumskelette sah, so weit das Auge reichte, war Martin Guericke. Er sagt, die Gefahr sei real gewesen – und nur rechtzeitig aufgehalten worden. Sein Kollege Heinrich Spiecker aus Freiburg sieht das anders.
„Das war eine Hysterie. Das Waldsterben gab es gar nicht. Der saure Regen hat den Bäumen relativ wenig angetan“, sagt er. Spiecker hat in den 1980ern Statistiken für den Schwarzwald erstellt. „Damals sind maximal 10 Prozent von dem, was durchschnittlich zuwächst, abgestorben“, sagt er. Während des extrem trockenen Sommers 2003 und den Folgejahren hat Spiecker dreimal so hohe Werte gemessen. „Nur interessiert das heute niemanden mehr.“ Nadelbäume sind stärker gefährdet. Vor allem die Fichte, Deutschlands wirtschaftlich wichtigster Baum und Problemkind. Die flachen Wurzeln machen die Fichte anfälliger für Dürrephasen und Stürme. Die trockenen Sommer der vergangenen Jahre und Orkane haben gezeigt, was das bedeuten kann.
„Trockenheit stecken die Bäume relativ gut weg“, sagt Spiecker. „Aber wenn zum Beispiel Insektenkalamitäten hinzukommen, wird es ernst.“ Fichten, die von der Hitze gestresst sind und nicht ausreichend Harz zur Verteidigung produzieren können, sind ein leichtes Opfer für den Borkenkäfer. Und in die von Stürmen umgesensten Baumleichen lagert der Käfer bevorzugt seine Brut ein, die später die umliegenden Bäume attackiert.
Ohne menschliches Eingreifen käme die Fichte nur in höheren Lagen vor und würde nur rund ein Prozent der Fläche Deutschlands bedecken. Das fanden Botaniker anhand von Pollenanalysen aus alten Bodenproben heraus. Stattdessen müssten Laubwälder, also Buche, Eiche, Erle und Birke, vorherrschen.
Viele Gebiete Deutschlands sind aber Nadelbaumrevier. In Berlin und Brandenburg dominiert die Kiefer, im Süden des Landes die Fichte. Die beiden Bäume wachsen heute in rund 47 Prozent der deutschen Waldfläche. Ihr Vormarsch begann im 19. Jahrhundert, aus wirtschaftlichen Gründen. Die Bäume wachsen schnell und gerade, sie eignen sich für den Hausbau ebenso wie für Möbel und Schiffe. Die Monokulturen entstanden.
Guericke sieht die Sache pragmatisch. Man wisse zwar, dass der Klimawandel kommt. Was genau er bewirkt, könne man aber nicht sagen. Deshalb dürfe man nicht alles auf eine Karte setzen – im Wald der Zukunft müsse man das Bäume-Portfolio ausweiten. „Die große Försterkunst und Lösung kann nur sein, möglichst artenreiche Ökosysteme zu entwickeln. Dadurch senken wir das Betriebsrisiko.“ Für schnelle Experimente taugt die Forstwissenschaft nicht. „Wenn ich in der Landwirtschaft eine falsche Pflanze wähle, dann wächst das nicht und nächste Saison pflanze ich was anderes“, sagt Guericke. „In der Forstwirtschaft erkennen sie das aber möglicherweise nicht sofort – und steuern zu spät entgegen.”
Wissenschaftler experimentieren mit Arten, die dem Klimawandel trotzen sollen
Wie so ein Experiment aussehen kann, kann man im bayerischen Laufen beobachten. Dort recken auf einem Versuchsfeld des bayerischen Amts für forstliche Saat- und Pflanzenzucht (ASP) rumänische Weißtannen, Libanonzedern und bulgarische Buchen ihre Triebe in den Himmel. Die Bäume, die da vor der Kulisse der Berchtesgadener Alpen wachsen, stammen aus Regionen, in denen ähnliche klimatische Bedingungen herrschen, wie sie den Prognosen der Klimaforscher zufolge Bayern bevorstehen.
Nach Bulgarien wiederum haben die ASP-Forscher um Projektleiter Gerhard Huber bayerische Buchen verpflanzt und sie mit den einheimischen Bäumen verglichen. Resultat: „Unsere Buchen sind gut gewachsen und mit dem Klima relativ gut zurechtgekommen. Allerdings können die bulgarischen Buchen die längere Vegetationszeit besser nutzen“, sagt Huber. Um daraus Schlüsse zu ziehen, müsse man noch zehn bis zwanzig Jahre abwarten, betont er. Forstwissenschaft ist Forschung in Zeitlupe. Sollten die deutschen Aussiedler in Bulgarien nicht überleben, könnte der bayerische Wald aber nicht mehr auf die heimischen Arten bauen. Doch Exoten in ein fragiles Ökosystem einzubringen, birgt auch Gefahren.
Im Stadtwald Eberswalde fängt es an zu regnen, das Laub raschelt, der Himmel hat sich verfinstert. Martin Guericke spricht von einem „Tipping Point“ und der Gefahr, dass das Ökosystem Wald kollabiert. „Wir und die nächsten drei, vier Förstergenerationen müssen uns bemühen, das System zu stabilisieren.“