Erdbeben: Der unruhige Planet
Vor einem Jahr bebte die Erde in Japan – heftiger als die Experten für möglich gehalten hatten. Die Erdstöße zeigen: Auch in vielen anderen Weltgegenden müssen sich Menschen auf Starkbeben gefasst machen.
Es war Freitagnachmittag, die meisten hatten eine anstrengende Woche hinter sich. Auch Frederik Tilmann freute sich aufs Wochenende, schließlich ist er nicht alle Tage in Tokio zu Gast. Aber noch saßen die Wissenschaftler beisammen, Meeresforscher und Geophysiker, diskutierten über das große Erdbeben von Sumatra im Dezember 2004. „Auf einmal spürten wir ein Zittern“, erinnert sich Tilmann. „Anfangs dachte ich noch: Oh, ein kleines Erdbeben, ist ja nicht ungewöhnlich hier.“ Ein harmloses Andenken für den Seismologen vom Deutschen Geoforschungszentrum Potsdam (GFZ). Doch das Zittern hörte nicht auf. „In so einer Situation hat man kein realistisches Zeitgefühl“, sagt er. „Aber es waren bestimmt zehn Sekunden und es war klar: Das ist ein großes Beben.“
Die Wissenschaftler schauten sich an, ein paar Gesten, kurze Worte – raus hier!
„Als ich im Treppenhaus war, trafen die S-Wellen ein“, erzählt Tilmann. Sekundärwellen, sie sind langsamer als die P-, die Primärwellen, aber zerstörerischer. „Ich hörte ein metallisches Klirren, alles wackelte.“ Von Angst will der zurückhaltende, bedachte Mann nicht unbedingt sprechen. „Das ist ein sehr starkes Wort. Aber Sorge hatte ich schon.“
Bald darauf waren er und seine Kollegen draußen. Immer wieder zitterte der Untergrund, späte Wellen, Nachbeben, doch das Schlimmste war vorüber.
Nicht aber für die Menschen im Nordosten der Insel Honshu, in der Region Tohoku. Sie waren näher am Herd des Erdbebens vom 11. März 2011. Mit einer Magnitude – damit beziffern Seismologen die Wucht eines Erdbebens – von 9,0 ist es das fünftstärkste seit Beginn der weltweiten Messungen und das heftigste, das je in Japan registriert wurde.
Wer die Erdstöße überstanden hatte, sah sich bald einer noch viel größeren Gefahr gegenüber. Ein gewaltiger Tsunami überflutete die Küste. Rund 20 000 Menschen verloren durch die beiden Naturereignisse ihr Leben. Der Katastrophe im Kernkraftwerk Fukushima, die in den folgenden Wochen die öffentlichen Diskussionen und politischen Entscheidungen in Deutschland bestimmte, ist bis heute offiziellen Angaben zufolge kein Mensch zum Opfer gefallen.
Das gewaltige Tohoku-Erdbeben, wie es in den Datenbanken der Geowissenschaftler genannt wird, ist ein Lehrstück darüber, was Erdbebenforschung leisten kann und wie wenig zugleich die Fachleute bis heute von solchen Erschütterungen verstanden haben. Die Erfolge, um nur einige zu nennen, sind die verhältnismäßig geringen Schäden an Leib, Leben und Infrastruktur in Japan – der Tsunami ist hier ausdrücklich ausgenommen. Ohne erdbebensicheres Bauen, effektive Notfallpläne, und regelmäßige Katastrophenübungen hätten die Erdstöße weitaus schlimmere Folgen gehabt.
Zugleich offenbart das Tohoku-Beben große Wissenslücken. Zuerst ist es die Tatsache, dass Forscher solche Ereignisse noch immer nicht vorhersagen können. Auch die Erschütterungen, die bereits Tage zuvor spürbar waren, konnten sie nicht zuordnen: Sind es „normale“ Beben, die wieder vergehen, oder Boten eines noch viel größeren Ereignisses? „Vorbeben treten gelegentlich auf, aber nicht immer“, sagt der GFZ-Seismologe Tilmann. „Das größere Problem besteht darin, dass wir – bis auf sehr wenige Ausnahmen – Vorbeben erst dann als solche erkennen, wenn es bereits zu spät ist.“
So war es auch vor Honshu, wo das Hauptbeben zudem deutlich heftiger war, als die offiziellen Gefährdungsanalysen überhaupt für möglich gehalten hatten. Das Maß dafür ist die Magnitude. Sie wird im Wesentlichen dadurch bestimmt, wie weit sich der unterirdische Bruch erstreckt und um wie viel Meter die beiden Erdplatten während des Bebens aneinander vorbeischrammen. Die Messwerte zeigen, dass die Erdschichten unter der japanischen Küste auf einer Länge von 600 Kilometern zerrissen wurden. Einst benachbarte Gesteine wurden teilweise mehr als 50 Meter gegeneinander verschoben – ein Wert, den Fachleute weltweit bis dato für nahezu unerreichbar gehalten hatten. Welch irrsinnige Kraft musste da am Werk gewesen sein, um Felspakete mal eben über eine Länge von vier Berliner Doppeldecker-Bussen gegeneinander zu versetzen?
Das Starkbeben von Tohoku hat den Optimismus mancher Experten gehörig erschüttert. „Bis zum letzten Jahr kursierte noch vielfach die Vorstellung, dass es entlang von Subduktionszonen – also dort, wo eine Erdplatte unter eine andere abtaucht – geschützte Regionen gibt, in denen Erdbeben mit einer Magnitude von 9 eigentlich unmöglich sind“, sagt Tilmann. „Das hat sich als falsch herausgestellt.“ Mit anderen Worten: Der 11. März 2011 ist eine eindringliche Warnung für alle großen Subduktionszonen, von Indonesien über Chile bis nach Alaska. Überall dort müssen sich die Menschen auf solche Starkbeben gefasst machen.
Starkbeben treten sehr selten auf. Wer kurze Zeiträume betrachtet, kann sich in falscher Sicherheit wägen
„Besonders gefährdet erscheinen mir die Gebiete, in denen seit Beginn der Messungen vor rund 100 Jahren nur moderate Beben bis zu einer Magnitude von etwa 8 registriert wurden“, sagt Paul Tapponnier vom Earth Observatory in Singapur. Dort hätte man sich gewissermaßen daran gewöhnt, dass es zwar Beben gibt, aber eben keine gewaltigen. Ein Trugschluss, denn ein Zeitraum von 100 Jahren ist in Bezug auf starke Erschütterungen eher klein. Sie treten teilweise nur alle paar hundert oder paar tausend Jahre auf. Die kurze Beobachtungszeit, in der nichts Dramatisches passiert, kann eine falsche Sicherheit vorgaukeln.
„In den meisten Küstenregionen sollten die Behörden, gemäß des wirtschaftlichen Entwicklungsstandes, für solche seltenen Ereignisse vorsorgen“, fordert Tapponnier. Das könne zum Beispiel heißen, dass neben den erdbebensicheren Bauwerken Tsunami-Schutzwände nicht nur für durchschnittliche Achtmeterwellen ausgelegt werden, sondern auch für außergewöhnliche 30- bis 40-Meter-Wellen. „Selbstverständlich sollte das Pflicht sein bei Kernkraftwerken oder anderen sensiblen Industriekomplexen nahe der Küste.“ Die Alternative zu den teuren Investitionen, sagt der Geoforscher, bestehe darin, zu akzeptieren, dass alle paar hundert Jahre einige zehntausend Menschen zu Opfern werden könnten.
Katastrophenschützer dürfen sich aber nicht nur von der Magnitude leiten lassen. Auch schwächere Erdbeben können verheerend sein, wie die Erdstöße in Haiti im Januar 2010 zeigten. Die Magnitude betrug „nur“ 7,0. Doch der Bebenherd lag nahe der Oberfläche, und dort befinden sich ausgerechnet sandige Schichten, die von den seismischen Wellen regelrecht aufgeschaukelt wurden – mit katastrophalen Folgen für Bauwerke. „Außerdem wurde der Untergrund so versetzt, dass das Erdbeben besonders starke Wellen in Richtung von Port au Prince abstrahlte“, sagt Tilmann. „Alles was aus Sicht der Bewohner schiefgehen konnte, ging auch schief.“ 230 000 Menschen kamen um.
Erdbeben werden wohl niemals exakt vorhergesagt werden können
Wie viele Leben hätten gerettet werden können, wenn die Haitianer gewarnt worden wären. „Eine konkrete Aussage, wann, wo und mit welcher Magnitude ein Beben eintritt, wird es wahrscheinlich niemals geben“, fasst Heiner Igel von der Ludwig-Maximilians-Universität in München die Meinung der meisten Seismologen zusammen. Dafür spielten zu viele Faktoren eine Rolle. „Nehmen wir nur die Bruchentwicklung: Wo beginnt der erste Riss, wie weit breitet er sich aus, warum stoppt er an einer bestimmten Stelle?“, erläutert er. „Da wissen wir noch viel zu wenig.“ Das Tohoku-Beben könnte zumindest etwas weiterhelfen. Weil Japan über eine dichtes Netz von Messgeräten verfügt, ist es das am besten dokumentierte Starkbeben. Zudem soll demnächst das Forschungsschiff „Chikyu“ in die Bruchfläche hineinbohren, um Proben zu gewinnen.
All diese Informationen können dazu beitragen, die Erdstöße besser zu verstehen und so die prinzipielle Gefährdung für bestimmte Regionen in Zukunft besser einzuschätzen. „In dieser Hinsicht war das Jahr 2011 ein großer Schock für uns Seismologen, denn es hat gezeigt, wie fehlerhaft die Analysen mitunter waren“, sagt Igel. Das Beben von Tohoku wurde unterschätzt, die Erdstöße von Christchurch (Neuseeland) im Februar, die 185 Menschen das Leben kosteten, hatten die Forscher überhaupt nicht erwartet. „Wir wussten gar nicht, dass es dort eine tektonische Verwerfung gibt.“ Seit dem Beginn historischer Aufzeichnungen war es an dieser Stelle ruhig gewesen. Eine trügerische Ruhe.