Ausstellung zu Johann Joachim Winckelmann: Der Erfinder einer idealen Antike
Weimar erinnert an Winckelmann, den Künder griechischer Schönheit und Begründer der modernen Kunstgeschichte.
In Triest, diesem Kreuzungspunkt der Nationen, Sprachen und Kulturen, kam am 8. Juni 1768 Winckelmann gewaltsam zu Tode. Ein Kleinkrimineller hatte ihn ermordet. Das gebildete Europa war entsetzt – ganz Europa, denn Johann Joachim Winckelmann, 1717 in Stendal geboren und aus kleinen Verhältnissen zum bedeutendsten Altertumshistoriker seiner Zeit aufgestiegen, war eine europäische Erscheinung. Seine Schriften wurden schneller als die irgendeines anderen Autors in die Verkehrssprachen des Kontinents übersetzt; ganz abgesehen davon, dass er selbst auf Deutsch, Italienisch und Französisch schrieb.
Mit den „Gedanken über die Nachahmung der Griechischen Wercke in der Mahlerey und Bildhauer-Kunst“, die er 1755 in einer Auflage von nur 50 Exemplaren veröffentlichte, wurde Winckelmann in gelehrten Kreisen bekannt. Weit mehr als das: Seine Überlegungen, 1764 ausgebaut zur „Geschichte des Alterthums“, revolutionierten das ästhetische Denken Europas. Der Klassizismus, der die griechische Kunst und Kultur zum absoluten Vorbild erhob, fand in Winckelmanns Schriften seine Begründung.
Goethe vertiefte sich immer wieder in Winckelmanns Bücher
Die „Weimarer Klassik“ um Goethe und Schiller ist ohne Winckelmann nicht zu denken. Zumal Goethe vertiefte sich immer wieder in dessen Bücher und verfasste 1805 die Schrift „Winckelmann und sein Jahrhundert“, in der er dem eine Generation Älteren bescheinigt: „Er fühlte und kannte das Alterthum, so wie das Würdige der Gegenwart, des Lebens und des Charakters (...).“
Goethe und Winckelmann: Das ist eine geistige Beziehung, deren zweite Hälfte uns verloren gegangen ist. So ist die Ausstellung, die die Klassik Stiftung Weimar jetzt unter dem Titel „Winckelmann. Moderne Antike“ veranstaltet, ein Stück geistesgeschichtlicher Ausgrabung. Ihr spiritus rector ist die Französin Elisabeth Décultot, die als Humboldt-Professorin an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg die 2015 eingerichtete Professur für neuzeitliche Schriftkultur und europäischen Wissenstransfer innehat.
Über Winckelmann schreibt sie gemeinsam mit Martin Dönike und Claudia Keller in der Einleitung zum opulenten Katalog: „Diese dreifache Eigenschaft als Vater der Kunstgeschichte und Archäologie, als Heros der griechischen Schönheit und als Virtuose der deutschen Sprache, macht aus ihm eine der ersten Klassikerfiguren der deutschen Literatur- und Kunstgeschichte.“ Doch setzt das Weimarer Vorhaben gegen die nationale Verengung der Winckelmann-Rezeption im 19. Jahrhundert auf die internationale Ausstrahlung: „Mit Winckelmann verlässt die deutsche Literatur ihre angestammte Heimat und wird zum Exportprodukt.“
Winckelmann verschlang die Bildungsliteratur seiner Zeit
Als Beleg zeigt die Ausstellung eine Fülle von gedrucktem Material, von Büchern, Briefen und Exzerpten: Winckelmann verschlang geradezu die Bildungsliteratur seiner Zeit. Die von dem Berliner Büro „chezweitz“ auf anregende Weise gestaltete Ausstellung zeigt ehrfurchtgebietende Bücher, minutiöse Eintragungen und schließlich stolze Titelseiten eigener Veröffentlichungen Winckelmanns als einen europäischen Bildungsroman. Nichts hatte ihn, der sich in jungen Jahren als Hauslehrer verdingen musste, ehe er fünf Jahre lang als Konrektor einer Lateinschule in der Provinz dahinkrebste, zu einer solchen Karriere bestimmt.
Winckelmann war enorm fleißig – und lebte lange in prekären Verhältnissen. In Dresdens Königlicher Galerie konnte er erstmals antike Skulpturen sehen. 1755 veröffentlichte er seinen anfangs unbeachteten und dann Epoche machenden Erstling. Dann ging er nach Rom, diesen „kulturhistorischen Sehnsuchtsort“, wie es im neuen, ihm gewidmeten Jahrbuch 2017 der Klassik Stiftung Weimar heißt. Winckelmann hatte nichts zu verlieren – aber er muss ein enormes Talent gehabt haben, Kontakte zu knüpfen und auszubauen. Ein europäisches Netzwerk entsteht.
"Dresden wird nunmehro Athen für Künstler"
„Die reinsten Quellen der Kunst sind geöffnet“, hatte er 1755 geschrieben: „Diese Quellen suchen, heißt nach Athen reisen; und Dresden wird nunmehro Athen für Künstler.“ Doch allein in Rom war die Antike zu sehen; Griechenland war unerreichbar. Vieles, das Winckelmann als griechisch wahrnahm und pries, war römische Kopie; bemerkenswert insofern, als er später, in seinem Urteil gefestigt, gerade die römische Kunst als epigonal tadelt. Zumindest die Hauptwerke waren jedoch griechisch, so der „Apoll vom Belvedere“, jener Jüngling in Schrittstellung mit ausgestrecktem linken Arm, der nun in Weimar als Gipsabguss zu sehen ist, ebenso wie der muskuläre „Torso vom Belvedere“ oder, als Ideal weiblicher Schönheit, die anmutige „Venus Medici“.
„Edle Einfalt und stille Größe“ – diese bis heute halbwegs geläufige Kurzdefinition für das „allgemeine vorzügliche Kennzeichen der griechischen Meisterstücke“ gewinnt Winckelmann ausgerechnet an der bewegten Laokoon- Gruppe, denn es „zeiget der Ausdruck in den Figuren der Griechen bei allen Leidenschaften eine große und gesetzte Seele“. In Weimar werden solche Sätze am Objekt nachvollziehbar. Der Darstellung von Winckelmanns Weg im Obergeschoss des „Neuen Museums“ folgt diejenige von Winckelmanns Wirkung im Erdgeschoss.
Winckelmanns Nachlass wurde von Napoleons Truppen verschleppt
Dass der handschriftliche Nachlass des Antikenkenners, der sich bei seinem Tod in Rom befand, von Napoleons Truppen nach Paris verschleppt wurde, verstanden als „Heimholung ins Vaterland“ – das der Freiheit nämlich –, sodass Einzelblätter von Winckelmanns Hand nun aus der dortigen Bibliothèque nationale ausgeliehen werden, gehört zur europäischen Geschichte des „außerordentlichen Menschen“, wie Herder – noch ein Weimarer Klassiker – ihn 1781 rühmt.
Am Schluss ist der Ausstellung noch Heutiges beigemischt; Ausdruck des Bemühens, jüngere Besucher zu gewinnen. Dabei genügt es doch, sich den Lebensweg zu vergegenwärtigen, den Winckelmann beschritten hat: aus der Enge der Provinz in die universale Weite der Bildung. So gewinnt auch die Sottise des Romantikers Friedrich Schlegel von 1798 eine andere, eine positive Bedeutung: „Jeder hat noch in den Alten gefunden, was er brauchte, oder wünschte; vorzüglich sich selbst.“ Ja, in Weimar ist Selbst-Findung möglich.
Weimar, Neues Museum, bis 2. Juli. Katalog bei Hirmer, 29,90 €. – Rahmenprogramm unter www.klassik-stiftung.de