Goethes "Italienische Reise": Auch ich in Arkadien!
Es ist der Inbegriff deutscher Sehnsucht nach dem Süden, bis heute: Vor 200 Jahren erschien der erste Band von Goethes „Italienischer Reise“.
Er wollte das Land der Griechen mit der Seele suchen, wie seine Iphigenie, die im Exil fern der Heimat zur dramatisch-elegischsten Asylantin der deutschen Weltliteratur geworden ist. Aber Johann Wolfgang von Goethe ist nur bis Italien gekommen, die erste Fassung der „Iphigenie in Tauris“ hatte er dabei im Gepäck.
Was heißt nur bis Italien! Als er im September 1786 von der Kur in Karlsbad kurz nach seinem 37. Geburtstag fast fluchtartig und inkognito gen Süden aufbrach, war das „Land, wo die Zitronen blüh’n“, wie er seine Mignon später im „Wilhelm Meister“-Roman singen lässt, längst ein Hotspot der Bildungsreisenden. Vor allem die Engländer füllten schon Bibliotheken mit ihren Italien-Berichten. Auch Goethes Vater hatte 1740, auf Italienisch, eine „Viaggio per l’Italia“ verfasst; und aus zahlreichen deutschen Italien-Führern nahm der Sohn, der die gut anderthalbjährige Flucht vom Ministeramt in Weimar ein wenig vorbereitet hatte, die „Historisch-kritischen Nachrichten von Italien“ des Kunsthistorikers Johann Jacob Volkmann mit über die Alpen. Und in Rom erwarb er die zweibändige „Geschichte der Kunst des Alterthums“ von Johann Joachim Winckelmann, der gleichfalls nie in Griechenland war, aber durch das eher missverständliche Diktum über die „edle Einfalt und stille Größe“ der antiken Skulpturkunst allgemeine Zustimmung gewonnen hatte.
Vor jetzt 200 Jahren ist der erste Band von Goethes erst später so genannter „Italienischen Reise“ erschienen. Damals, 1816, war der Verfasser des „Werther“, des „Wilhelm Meister“, der in Italien vollendeten Dramen der „Iphigenie“ und des „Torquato Tasso“ zwar längst eine Weltfigur. Napoleon hatte ihm bei der Begegnung am 2. Oktober 1808 in Erfurt sein „Voilà un homme“ entgegengerufen. Als hätte der Kaiser einen Gott erwartet.
Aber diese „Italienische Reise“, noch immer das wohl berühmteste Italien-Buch überhaupt, war zunächst kein Coup. Trotz des vorangestellten Mottos „Auch ich in Arkadien!“ – das alle deutschen Südenssehnsüchte anzusprechen schien und das der Autor in seiner späteren Gesamtausgabe doch tilgen ließ.
Die "Italienische Reise" ist von mancherlei Geheimnissen umweht
Als Goethe 1816 und mit dem zweiten Band 1817 die bereits Jahrzehnte zurückliegenden Italien-Erlebnisse aus der Zeit zwischen dem September 1786 und dem Mai 1788 auf Grund von Tagebuchaufzeichnungen und Briefen rekonstruierte, wählte er den wenig leserfreundlichen Titel „Aus meinem Leben. Zweite Abteilung erster und zweiter Teil“. Der seiner historischen Bedeutung sich so bewusste Weimarer Dichterfürst dachte, das reiche wohl als Attraktion und jeder wisse, dass mit der „zweiten Abteilung“ eine Fortsetzung seiner autobiografischen „Dichtung und Wahrheit“ gemeint sei. Warum indes ein solch sprödes Understatement?
Tatsächlich umwehen die „Italienische Reise“ mancherlei Geheimnisse. Das vorangestellte Arkadien meinte jedenfalls mehr als die Landschaft auf dem Peloponnes. Allerdings glaubte sich Goethe, der Olympier, den Griechen nah – weil er schon die römische Antike im Zusammenklang mit ihren hellenischen Ursprüngen sah. Und angesichts der dorischen Tempel schließlich im süditalienischen Paestum und auf Sizilien war er ja immerhin in der „Magna Graecia“, in der einst griechischen Kolonie angelangt. Zudem fühlte er sich auf dem Meer zwischen dem Festland und Sizilien dem mythischen Odysseus nah, den verführerischen Zauberinnen, den Sirenen auf Felseninseln oder anderen Seeungeheuern.
Das eigentliche Ziel freilich war Rom. Bevor er dort am 1. November 1786 ausrief „Ja, ich bin endlich in dieser Hauptstadt der Welt“ angelangt!“, war er über den Brenner, den Gardasee, Verona, Venedig, Ferrara und die Toskana gereist. In Florenz, der Hauptstadt der Renaissancekunst, bleibt er voll blinder Ungeduld nur drei Stunden. Verona erscheint ihm wegen der römischen Arena interessant und Venedig als maritimer Ort. Zuvor am Gardasee, wo er erstmals Oliven-, Feigen- und Zitronenbäume erblickt hatte, war er fast verhaftet worden: Man hielt den Fremden, der die Scaligerburg in Malcesine skizzieren wollte – insgesamt sind etwa 850 Goethe-Zeichnungen aus Italien überliefert – zuerst für einen habsburgischen Spion. Die Burg war auch eine militärische Anlage, in späterer Zeit hätte ein Fotografierverbot gegolten.
Meistens bewegte Goethe sich inkognito in Rom
Goethe, der in der Mitte seiner Jahre nach der unerfüllten Liebesbeziehung zur Freifrau von Stein und der Aussicht auf ein beim Forschen und Dichten womöglich hinderliches Lebensamt beim Herzog in Weimar noch einmal ein freier, unbekannter, ins Offene schweifender Künstler sein wollte, er hatte sich für Italien das Pseudonym Johann Philipp Möller zugelegt. Im Gardaseedörfchen Malcesine fand sich immerhin schon damals ein einheimischer Ex-Gastarbeiter aus Frankfurt, dem er sich nicht als Goethe, aber doch als dort Geborener zu erkennen gab und der für die Freilassung des Hessisch und Italienisch sprechenden Gasts eintrat.
Auch danach hat sich Goethe, der die höheren italienischen Gesellschaftskreise meist mied, nur sehr gelegentlich als Autor des „Werther“, eines europäischen Bestsellers, enttarnt. Ebenso bewahrten die Freunde in Rom das Pseudonym: der Maler Wilhelm Tischbein, der ihn unter anderem im berühmten Schlapphutporträt „in der Campagna“ verewigte, die Malerin Angelika Kauffmann oder der Schriftstellerkollege Karl Philipp Moritz, der mit seinen eindrucksvollen „Reisen eines Deutschen in Italien in den Jahren 1786 bis 1788“ Goethes eigenem Buch ein Vierteljahrhundert zuvorgekommen war.
In Sizilien suchte Naturforscher Goethe die "Urpflanze"
„Künstlerburschenschaft“ hieß die italienische Existenz, und Goethe liebte das Versteckspiel als ein Realtheater, das er bei Mephistos Scharaden im „Faust“ mit dämonischem Vergnügen spiegeln wird. Einmal reicht ihm sogar der Maler Möller nicht. Denn auf Sizilien, in Palermo, gibt er sich noch als Engländer aus, um den Geheimnissen des Grafen Cagliostro, eines Hochstaplers und Alchimisten, bei dessen Verwandten auf die Spur zu kommen. Später wollte er noch eine Cagliostro-Oper schreiben, daraus wurde dann als italienisches Früchtchen die kleine Komödie „Der Groß Kophta“.
Sizilien, wo er als Naturforscher die „Urpflanze“ suchte, das Meer, seine erste große Fahrt zu Schiff (und gleich seekrank) sowie Neapel sind für Goethe Höhepunkte. Neapel, am Golf und gegenüber dem für ihn ausbrechenden Vesuv, erscheint ihm als schönste Stadt, doch eben nicht als Hauptstadt der Welt.
Das bleibt Rom: wegen der Antike und wegen der vatikanischen Papstherrschaft – obwohl Goethe kein Verhältnis zum Barock der römischen Kirchen hat. Die Kunstwerke im Vatikanischen Palast und die Sixtinische Kapelle Michelangelos bewundert er ebenso wie die Raffael-Stanzen, aber er verachtet alles Pfäffische und den päpstlichen Hofstaat. Der römische Karneval und das Theater finden Beachtung – und noch mehr die Landschaften und Stimmungen, bei denen „die Aufmerksamkeit des Künstlers“ und „die Wahrnehmung des Lyrikers in die Prosa des Tagebuchschreibers eindringt“, wie Norbert Miller, der Literaturwissenschaftler und Autor der tiefgründigen Studie „Der Wanderer. Goethe in Italien“, kürzlich im Berliner Italienischen Kulturinstitut zum „Reise“-Jubiläum angemerkt hat.
Bis zur Begegnung mit seiner "Faustina" soll Goethe jungfräulich gewesen sein
Es ist die absolute Subjektivität, die das Buch von anderen Italien-Beschreibungen unterscheidet. Und darin auch das dichterisch Übermalte. Längst vor Erscheinen der „Italienischen Reise“ hatte er ja schon in Schillers Zeitschrift „Die Horen“ die (von ihm selbst und dem Freund und Redakteur) stellenweise zensierten „Römischen Elegien“ als poetische „Erotica Romana“ publiziert. Bruchstücke einer schamhaft schamlosen Konfession. Roma wird da rückwärts gelesen zu Amor, der Dichter verkehrt in der Stadt der Liebe offenbar mit einer jungen Frau aus einfachen Verhältnissen, jener nie ganz enträtselten Faustina. In Vermischung mit der nach der Rückkehr aus Italien begonnenen Weimarer Beziehung mit Christiane Vulpius, dem „Bettschatz“, heißt es nun: „Uns ergötzen die Freuden des echten nacketen Amors / Und des geschaukelten Betts lieblich knarrender Ton“.
Laut der Studie des amerikanischen Psychoanalytikers K. R. Eissler soll der vielumschwärmte Poet bis zur Begegnung mit Faustina jungfräulich gewesen sein, und in einem Brief aus Italien hat er dem Männerfreund und Weimarer Herzog Carl August seine Angst vor Geschlechtskrankheiten bekannt oder die Sorge vor drohender Heirat bei den „ehrbaren“ jungen Italienerinnen. Rätselhaft bleibt allerdings, warum, abgesehen von Fragmenten, Goethe seine „Italienische Reise“ erst nach dreißig Jahren publiziert hat. Es war das größte Erlebnis des sonst so stark von seinen sensuellen Eindrücken zehrenden Dichters. Und er war nie in London oder Paris (trotz Napoleons Einladung) gewesen, nie in Wien und nur ein Mal kurz in Berlin. Rom, der Magnet bis heute, und der italienische Süden blieben sein Größtes. Warum er das so lange zurückhielt, können auch eine Million Goethe-Interpretationen noch immer nicht erklären.
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