Neue Pisa-Studie: Der deutsche Pisa-Aufstieg ist gestoppt - warum?
Die Ergebnisse der weltweit größten Schulstudie sind ernüchternd. Der Aufwärtstrend ist gestoppt, der Anteil der Risikoschüler steigt sogar. Fragen und Antworten zum Thema.
Der stetige Aufwärtstrend in den deutschen Schülerleistungen seit dem Pisa-Schock von 2001 ist gestoppt: Das ist das Ergebnis der neuesten Ausgabe der weltweit größten Schulstudie, für die eine halbe Million 15-Jährige getestet wurden. In Deutschland nahmen 10.500 Schülerinnen und Schüler teil. Bildungsforscher und -politiker interpretieren das deutsche Resultat als Stabilisierung. Was sind die Gründe für die Resultate? Ein Überblick.
Wo Deutschland steht
Bei der vergangenen Pisa-Studie vor drei Jahren lagen die deutschen Schülerinnen und Schüler erstmals in allen drei getesteten Bereichen über dem OECD-Schnitt. Dieses Ergebnis können sie wiederholen – sie verbessern sich aber nicht weiter. Die deutsche Studienleiterin Kristina Reiss von der TU München sprach dennoch von einem „positiven Bild“: „Es ist wenigen anderen Ländern gelungen, über alle Pisa-Studien hinweg erst ein gutes Niveau zu erreichen und dieses dann zu halten.“ Gerade angesichts einer immer heterogeneren Schülerschaft würden in den deutschen Schulen „exzeptionelle Anstrengungen“ geleistet.
Gleichwohl ist der Abstand zu den Spitzenreitern groß: Der Vorsprung von Singapur, das in den Naturwissenschaften, im Lesen und in Mathematik die Rangliste anführt, beträgt teils fast zwei Schuljahre (30 Punkte entsprechen einem Schuljahr). Deutlich vorne liegen auch andere Länder Asiens wie Japan und Hongkong sowie aus Europa Estland und Finnland, das sich von seinem Rückschlag bei der vergangenen Pisa-Studie erholt hat. Auf dem deutschen Niveau befinden sich die Schweiz, Korea und Australien.
Im Vergleich zu 2012 legte Deutschland im Lesen um einen Punkt zu, in Mathematik verlor man dagegen acht Punkte – beides für die Bildungsforscher keine signifikanten Veränderungen. In den Naturwissenschaften geht das Ergebnis allerdings deutlich um 15 Punkte zurück. Reiss wollte das nicht überbewertet wissen. Praktisch alle Länder hätten in den Naturwissenschaften weniger Punkte erzielt, Deutschland habe nicht an Boden verloren. Im Vergleich zu 2006, als die Naturwissenschaften das letzte Mal Schwerpunkt der Studie waren, sei das Ergebnis ohnehin konstant. Claudia Bogedan, Präsidentin der Kultusministerkonferenz, sagte, Deutschland könne auf die Stabilisierung „stolz“ sein, müsse sich aber weiter anstrengen: „Bei einem 800-Meter-Lauf darf man nicht nach 600 Metern mit dem Tempo nachlassen.“
Erstmals mussten die Schüler alle Aufgaben am Computer lösen. Reiss deutete an, die Deutschen hätten damit womöglich mehr Schwierigkeiten gehabt als andere Nationen. Das hätten Kontrollaufgaben im Vorfeld der Studie ergeben.
Schwerpunkt Naturwissenschaften
Asiatische Schüler sind auf Fakten gedrillt, deutsche Schüler können Wissen kreativer anwenden – so will es das Klischee. Bei der Pisa-Studie erweist sich das Gegenteil. Denn die deutschen Schüler schneiden beim Reproduzieren von Faktenwissen um sechs Punkte besser ab als beim Verstehen von naturwissenschaftlichen Methoden. Beim Spitzenreiter Singapur ist es genau andersrum. Reiss erklärte die deutsche Methodenschwäche damit, dass die Umstellung von einem lehrerzentrierten Unterricht hin zu mehr Schülerexperimenten nicht weit genug gediehen ist: „Hier müssen wir uns mehr anstrengen.“ Tatsächlich nehmen zwei Drittel der Schüler den Unterricht als „wenig kognitiv anregend“ wahr.
OECD-Bildungsdirektor Andreas Schleicher führt das Ergebnis auch auf eine „Technikfeindlichkeit“ der deutschen Schüler zurück. Anders als in Singapur oder Kanada vertrauten sie naturwissenschaftlichen Methoden weniger und erwarteten seltener, dass diese die Welt und ihr eigenes Leben verändern. In Deutschland gingen auch „Leistungen und Karriereerwartungen nicht Hand in Hand“. Deutsche Schüler mit guten Leistungen können sich den Ergebnissen nach seltener als die in anderen Ländern vorstellen, später in einem naturwissenschaftlichen Beruf zu arbeiten.
Spitzenlerner und Risikoschüler
Auffällig ist, dass in den Naturwissenschaften vor allem die Gymnasiasten schwächer wurden – während andere Schularten stabil bleiben. Deutschland schöpft das Potenzial seines differenzierten Schulsystems, naturwissenschaftliche Talente besser zu fördern, nicht richtig aus, folgern die Bildungsforscher.
Und so verfehlt Deutschland in allen drei Bereichen das von den Kultusministern im Jahr 2012 gesetzte Ziel, dass jeweils 20 Prozent der Schüler zu den leistungsstärksten gehören sollen. In zwei Bereichen gibt es sogar einen Rückschlag: In Mathe gehören nur noch 12,9 Prozent zu den Besten, gut vier Prozent weniger als 2012. In den Naturwissenschaften erzielten vor drei Jahren zwölf Prozent der deutschen Schüler Bestleistungen, jetzt sind es 10,6 Prozent. „Das Bröckeln der Spitzengruppe bereitet Sorge“, sagte die deutsche Studienleiterin Reiss. Gegenteilig ist nur die Entwicklung der starken Leser. Hier setzt sich der kontinuierliche Anstieg fort: von neun auf 11,7 Prozent.
In allen internationalen Bildungsstudien wird moniert, dass in Deutschland nicht nur die Gruppe der Leistungsstarken zu klein ist – sondern auch die der leistungsschwachen Schüler zu groß. In den Jahren nach der ersten Pisa-Studie gab es hier Erfolge, vor allem beim Lesen: Die Risikogruppe der Schüler, die selbst mit einfachen Texten Schwierigkeiten haben, nahm zwischen 2000 und 2012 um acht Prozentpunkte ab und lag damit bei 14 Prozent. Aktuell ist die Gruppe der Leistungsschwachen aber wieder auf 16,2 Prozent gewachsen, ebenso wie in den Naturwissenschaften (von 12 auf 17 Prozent). Besser sieht es in der Mathematik aus: 17,2 Prozent sind nach der neuen Studie leistungsschwach, 2012 waren es noch 18 Prozent, 2003 fast 22 Prozent.
Chancengerechtigkeit
Noch immer hängt in Deutschland der Schulerfolg von Jugendlichen deutlich von ihrer sozialen Herkunft ab – auch wenn sich der Zusammenhang im Lauf der vergangenen Jahre abgeschwächt hat. In den Naturwissenschaften schreiben die Bildungsforscher jetzt 16 Prozent der Varianz bei den Schülerleistungen dem sozioökonomischen Hintergrund zu, 2006 lag der Wert noch um vier Prozentpunkte höher. In Ländern wie Kanada, Estland, Finnland und Japan liegt der Wert allerdings bei unter zehn Prozent, auch der OECD-Durchschnitt liegt mit rund 13 Prozent unter dem deutschen Wert. In Deutschland gelingt es auch nur einem Drittel der sozial benachteiligten Jugendlichen, in die Gruppe der leistungsstärksten Schülerinnen und Schüler vorzustoßen. In Vietnam, Singapur, Japan und in Estland schaffen das dagegen die Hälfte oder sogar mehr der am stärksten sozial benachteiligten Schüler.
Besser als in den Vorjahren haben die Migranten der zweiten Generation abgeschnitten, deren Eltern aus dem Ausland stammen, die selber aber in Deutschland geboren wurden. Ihr Leistungsabstand zu den Schülern mit zwei deutschen Elternteilen hat abgenommen. Allerdings entspricht auch ihr Rückstand im Schnitt noch immer einer Kompetenzstufe.
Gendergap
Erstmals liegen die Jungen in den Naturwissenschaften im OECD-Schnitt vier Punkte über den Mädchen. Auch in Deutschland gibt es nach 2009 erstmals wieder einen Gendergap. Deutschland gehört zu den sechs OECD-Ländern mit der größten Kluft: Die Jungen liegen zehn Punkte vor den Mädchen, beim Schlusslicht Österreich sogar um 14 Punkte. Den größten Gendergap unter den OECD-Ländern hat Finnland, allerdings in umgekehrter Weise: Hier liegen die Mädchen 20 Punkte vor den Jungen. In Lettland sind die Mädchen um elf Punkte voraus, in Griechenland um neun Punkte.
In Mathematik erzielen die Jungen in Deutschland im Schnitt sogar 16 Punkte mehr. Die deutschen Schulforscher betonen aber, dass „eine nicht erhebliche Zahl von Mädchen“ in Mathematik über der Leistung von Jungen liegt. Beim Lesen erreichen die Mädchen in Deutschland im Schnitt 21 Punkte mehr als die Jungen. Die Forscher stellen fest, die Geschlechterdifferenzen seien von den Strukturen im Unterricht, der Schule und der Gesellschaft geprägt. Sie fordern, Maßnahmen zur Förderung von Jungen und Mädchen zu entwickeln.
Empfehlungen und Reaktionen
Um Deutschland in die internationale Leistungsspitze zu führen, müsse die Reformdynamik in Deutschland wieder deutlich zunehmen, sagte OECD-Bildungsdirektor Andreas Schleicher. Die größten Erfolge verdanke man hierzulande der gezielten Förderung von Migranten und der individuellen Förderung aller Schüler. Und doch hapere es vielerorts noch immer beim „kreativen, individuell förderndem Unterricht“. Überdenken müssten die Länder ihre Stundentafeln. „Mit mehr zeitlichem Einsatz könnte Deutschland mehr herausholen.“
Auch für Kristina Reiss vom deutschen Pisa-Konsortium geht es jetzt darum, den Unterricht weiter zu verbessern: „Die großen Systemfragen sollten wir dagegen nicht mehr stellen.“ Heinz-Peter Meidinger, Vorsitzender des Deutschen Philologenverbandes, warnt davor, sich an den ostasiatischen Pisa-Siegerländern zu orientieren. Der enorme Leistungsdruck dort und der Verzicht auf musische Fächer und zusätzliche Fremdsprachen seien kein Vorbild für Deutschland. Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft forderte, die Probleme und die Rahmenbedingungen von Schulen genauer zu beleuchten und daraus Förderkonzepte insbesondere für benachteiligte Schüler zu entwickeln.
In der Politik sieht man nun Handlungsbedarf. Cornelia Quennet-Thielen, Staatssekretärin im Bildungsministerium, sagte, Deutschland dürfe sich mit dem Erreichten nicht zufrieden geben: „Der Abstand zur Spitze bleibt zu groß.“ Vor allem müsse die Aus- und Weiterbildung von Lehrkräften gestärkt werden. SPD-Fraktionsvize Hubertus Heil nannte das geringe Schülerinteresse an MINT-Berufen ein „Warnzeichen für ein auf Fortschritt und Innovation angewiesenes modernes Industrieland“. Özcan Mutlu, Grünen-Sprecher für Bildungspolitik, forderte eine flächendeckende Bildungsoffensive. Dafür sei es nötig, das Kooperationsverbot zwischen Bund und Ländern auch im Schulbereich aufzuheben.
Lesen Sie hier einen Kommentar zu den Ergebnissen: Deutschland muss sich schneller bewegen.
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