Gastbeitrag zur Akkreditierung: Der Bologna-Prozess gerät ins Wanken
Ein Paukenschlag: Das Bundesverfassungsgericht erklärt das Akkreditierungsverfahren für verfassungswidrig – das hat Konsequenzen für alle Studiengänge in Deutschland
Wer heute ein Hochschulstudium aufnehmen will, muss sich für einen Bachelor- oder Masterstudiengang einschreiben. Diese neuen Studiengänge haben die Diplomstudien abgelöst, mit Ausnahme der Fächer Recht, Medizin, Theologie und einigen anderen. Zur Qualitätssicherung müssen die neuen Studiengänge akkreditiert sein, das heißt in einem länder- und hochschulübergreifenden Verfahren erfolgreich begutachtet worden sein. Derzeit existieren in Deutschland rund 18000 Studiengänge, davon sind etwa 5200 als Bachelorstudiengänge akkreditiert und 4700 als Masterstudiengänge.
Ein peinlicher Vorgang
Die Regelungen über die Akkreditierung von Studiengängen in Nordrhein-Westfalen sind jetzt vom Bundesverfassungsgericht als verfassungswidrig und unvereinbar mit der Wissenschaftsfreiheit, dem Demokratieprinzip und dem Rechtsstaatsprinzip erklärt worden. Das hat Folgen für alle Studiengänge bundesweit. Es ist ein Paukenschlag, der die Hochschullandschaft erschüttert. Ein peinlicher Vorgang obendrein. Ausgerechnet die Institution, die zur Qualitätssicherung in Lehre und Studium beauftragt worden ist, muss sich höchstrichterlich belehren lassen, dass ihre Qualitätsfeststellungen ohne rechtliche Grundlage erfolgen, und das nun schon seit über einem Jahrzehnt. Ein Kernbereich des Bologna-Prozesses gerät ins Wanken.
Wie ist es dazu gekommen? Die private Fachhochschule S.R.H. Hamm (Klägerin) wurde 2005 gegründet und staatlich anerkannt. Im selben Jahr nahm sie den Lehrbetrieb mit dem Bachelorabschluss Logistik auf. Die Fachhochschule erhielt eine Erstakkreditierung, befristet bis 2008, von der Akkreditierungsagentur ASIIN (Beklagte). Eine Reakkreditierung scheiterte, weil die Hochschule nicht den Nachweis einer Mehrzahl erfolgreich akkreditierter Studiengänge „nach den geltenden Regelungen“ erbracht habe. Die Klägerin erhob Klage, gerichtet auf die Verpflichtung der Agentur zur Akkreditierung. Das Verwaltungsgericht Arnsberg setzte das Verfahren aus und legte 2010 dem BVerfG die Frage zur Entscheidung vor, ob die Akkreditierungsvorschriften aus dem Hochschulgesetz (HG) NRW mit dem Grundgesetz vereinbar seien.
Der Gesetzgeber hat die Akkreditierung faktisch aus der Hand gegeben
Das BVerfG hat die Vorlage für begründet erklärt. Die Akkreditierungsregelung seien mit dem Grundgesetz unvereinbar. Zunächst stellt das Gericht klar, dass das Grundrecht der Wissenschaftsfreiheit auch die privaten Hochschulen schütze. Diese würden gezwungen, die Akkreditierung vorzunehmen, wenn sie als staatliche Hochschule anerkannt werden wollten. Das bedeute eine „präventive Vollkontrolle des Lehrangebots“, denn die Agenturen machten Vorgaben zur prozentualen Zusammensetzung der Inhalte von Lehrplänen, zu den Studien- und Prüfungsordnungen und sprächen Empfehlungen für Studienschwerpunkte und Module aus. Dieser Eingriff in die Wissenschaftsfreiheit sei verfassungsrechtlich nicht gerechtfertigt. Zwar stehe es dem Gesetzgeber frei, eine externe Qualitätssicherung vorzugeben. Die maßgeblichen Regelungen müsste er aber selbst treffen. Vor allem fehle es an Vorgaben für eine hinreichende Beteilung der Wissenschaft selbst. Der Hinweis im Gesetz auf die „geltenden Regelungen“, nach denen akkreditiert werden solle, genüge den grundgesetzlichen (Bestimmtheits-) Anforderungen nicht. Im Kern habe der Gesetzgeber die Normierung inhaltlicher und verfahrens- und organisationsbezogener Anforderungen an die Akkreditierung faktisch aus der Hand gegeben, ohne die für die gewichtigen Eingriffe in die Wissenschaftsfreiheit wesentlichen Entscheidungen selbst zu treffen.
Großes Ungemach ist zu befürchten
Ein Obsiegen in allen Punkten, ohne Wenn und Aber, wird oft als schallende Ohrfeige für den Unterlegenen bezeichnet. Mit dieser Entscheidung des BVerfG dürfte jedoch Ungemach in größerem Umfang zu befürchten sein. Das gesamte Qualitätssicherungssystem im Rahmen des Bologna-Prozesses steht auf dem Prüfstand. Von dem Verdikt des BVerfG kann eigentlich nur überrascht sein, wer zutiefst beratungs- und kritikresistent ist. Schon die einfachste Orientierung in Wikipedia belehrt mit Nachweisen, dass das Akkreditierungswesen in Deutschland rechtlich zweifelhaft ausgestaltet ist. In der juristischen Literatur der letzten zehn Jahre findet sich so gut wie keine ernsthafte Argumentation zugunsten des Konstrukts. Anders die öffentlich dargestellte “herrschende Meinung“. Auf Tagungen und Kongressen wurde man von Vertretern der Kultusministerkonferenz (KMK) und der Länder mitleidig belächelt, sprach man die rechtliche Problematik an. Dabei würde kein Jurastudent ein Examen bestehen, wenn er nicht einmal die Grundfrage jeder juristischen Überprüfung benennen könnte: Wo ist die Rechtsgrundlage und wurde von ihr fehlerfrei Gebrauch gemacht? Es möge der Hoffnung Ausdruck gegeben werden, dass für die ausstehenden Neuregelungen grundrechts – oder noch einfacher universitätsfreundliches Verhalten praktiziert werde. Das Bundesverfassungsgericht hat den Gesetzgeber aufgefordert, spätestens bis zum 31. Dezember 2017 eine verfassungskonforme Neuregelung vorzunehmen.
Das Produkt Akkreditierung ist gescheitert
Drei Wege stehen offen: Der Landesgesetzgeber lässt alles beim Alten und wartet ab. Da ein Abstimmungsprozess mit anderen Ländern, der KMK und der Hochschulrektorenkonferenz erforderlich wird, sind die Beamten im Stress und können die Frist nicht einhalten. Also wird stillschweigend Fristverlängerung in Anspruch genommen, um dann, in höchster Eile, den "erprobten" Weg zu beschreiten. Die Regelungen aus dem Verfahren werden einfach in das Landesrecht übernommen, akkreditiert wird weiter wie bisher. Es liegt auf der Hand, dass dieser Weg wenig universitätsfreundlich und wissenschaftsadäquat ist. Vor allem wird kritisch zu beobachten sein, wie die politischen Akteure das gescheiterte Produkt Akkreditierung verkaufen wollen, eingedenk der vielmundigen Beteuerungen, ein modernes und effektives Qualitätssicherungssystem in Europa schaffen zu wollen.
Bürokratisch und teuer
Überzeugender sollte die Neuorientierung gelingen, indem die Landesregierung die bekannten Mängel der Akkreditierung abstellt: Der hohe bürokratische Aufwand, die unsicheren Bewertungskriterien und die Kosten des Verfahrens, die intransparente Bestimmung der Gutachter, die Fixierung auf Mindeststandards und vor allem die Bereinigung und Verbesserung der inhaltlichen Vorgaben aus den KMK-Regelungen. Hier wird das Ministerium zum Beispiel Farbe bekennen müssen, ob die Anzahl der Kreditpunkte zu hoch ist und die Modulbeschreibungen zu detailliert sind, wie behauptet, ob die Feststellung und der Erwerb von Kompetenzen so verlangt werden könne oder die Modulfreiheit für die Studierenden hergestellt werden müsse. Die Erfahrungen aus einer 15 Jahre währenden Modulherrschaft und die Wahrnehmungen aus hunderten von Workshops sollten Anschauungsunterricht genug bieten, um ein besseres Studien- und Prüfungswesen an deutschen Hochschulen zu generieren.
Kommt eine Qualitätssicherung auf europäischer Ebene in Betracht?
Man könnte, verwegen genug, aber auch die Idee kommen, ein Qualitätssicherungssystem auf europäischer Ebene in Betracht zu ziehen, wie etwa in Großbritannien, in Finnland oder in der Schweiz praktiziert. Tragender Gedanke wäre hierbei, eine nationale Institution zu errichten, die die Hochschule bei der Konzeption von qualitätsfördernden Maßnahmen und Systemen unterstützt, und zwar methodisch und organisatorisch. Entscheidender Hinweis: die Akteure dieses nationalen Instituts sprechen nicht die Akkreditierungen aus. Die Qualitätssicherung wird hier also ernst genommen.
Ob die Akteure im deutschen Bolognageschehen diese Kraft aufbringen wollen, erscheint offen. Vielleicht wäre es sinnvoll, eine Verschnaufpause einzulegen. Nachdem ein Jahrhunderte lang erprobtes Universitätsmodell innerhalb kürzester Zeit umgestellt worden ist und die Beteiligten nicht selten enttäuscht und frustriert sind, sie sich zum Teil sogar vom Wissenschaftsgeschehen abgewendet haben, wäre es vielleicht hilfreich, eine schöpferische Pause zu verordnen. Fünf Jahre Organisationsruhe, der Zeitraum für eine Akkreditierung, frei von den Zwängen immer neuer und weiterer Rechtfertigungen, könnte Wunder wirken.
Der Autor ist Bildungswissenschaftler und hat das Handbuch herausgegeben: “Bachelor und Master. Die Grundlagen des neuen Studiensystems in Deutschland“. Er war Leitender Verwaltungsdirektor an der Freien Universität Berlin.
Peter Wex