„Die Frauen waren der entscheidende Faktor“: Der Abstieg des belarussischen Präsidenten Lukaschenko
Die Mehrheit der Belarussen hat sich von Lukaschenko abgewandt, Staatsbetriebe streiken. So weit wäre es jedoch nicht ohne die Frauen im Land gekommen.
Sind die Frauen in Belarus der Motor der Revolution? Und scheitert Präsident Lukaschenko am Ende an seiner Frauenfeindlichkeit? Die belarussische Oppositionsführerin Svetlana Tichanowskaja erklärte am Montag, sie sei bereit, das Land zu führen. Allein in der Hauptstadt Minsk stehen Zehntausende Demonstranten hinter ihr, Staatsbetriebe kündigen am Montag Generalstreiks an. Sie fordern freie Wahlen, wollen den politischen Umbruch.
Der Druck entfaltete am Montag Wirkung: Lukaschenko zeigte sich einem Bericht der Nachrichtenagentur RIA am Montag doch für Neuwahlen offen. Allerdings erst, sobald eine neue Verfassung angenommen wurde. Zuvor hatte er eine Wiederholung der Wahlen mehrfach abgelehnt.
„Politologisch waren die Frauen-Märsche in Belarus eine geniale Idee“, sagt Olga Dryndova, Politikwissenschaftlerin und Redakteurin für Belarus-Analysen an der Forschungsstelle Osteuropa der Universität Bremen.
Mit Tichanowskaja verkörpert eine Frau die Hoffnung auf Veränderung in einem Staat, in dem seit 26 Jahren ein Diktator regiert. Seine Tage an der Macht könnten bald gezählt sein. Grund ist nicht Tichanowskaja allein, sondern auch Tausende mutige Frauen im Land, die sich Gewalt und Repression entgegenstellten.
Nachdem vier Tage und Nächte über Polizisten und spezialisierte Sicherheitskräfte Demonstranten niederknüppelten, mit Blendgranaten bewarfen und in Gefängnissen misshandelten und folterten, veränderten Frauen das Straßenbild: Sie kamen tagsüber zu Hunderten, ganz in weiß gekleidet, teils barfuß und mit Blumen in den Händen. Ihre Botschaft: Frieden und Vernunft. Der Kontrast: ein hasserfüllter Regierungschef, der sich immer verzweifelter an der Macht festklammert.
In den ersten Tagen nach der Wahl demonstrierten angesichts der Gewalt auf den Straßen, der prügelnden Polizisten und der brutalen Festnahmen fast nur Männer. „Dass sich die Frauen den Protest ab diesem Zeitpunkt zugetraut haben, war der entscheidende Faktor“, sagt Dryndova. Barfüßige Frauen mit Blumen in den Händen niederzuschlagen – diese Bilder könne sich Lukaschenko nicht leisten.
Kalkül sieht Dryndova hinter dem Frauen-Protest jedoch nicht. Die treibende Kraft sei vielmehr das Entsetzen gewesen. Innerhalb von drei Tagen wurden beinahe 7000 Menschen im gesamten Land verhaftet, viele hinter Gittern misshandelt. „Das war eine nationale Tragödie“, sagt die Politikwissenschaftlerin.
Wahlkampf in Belarus: Neue Gesichter in der Politik, neue Arten der Kommunikation
Lukaschenko sicherte sich von 1994 an seine Macht im Land durch eine Strategie, die Politikwissenschaftler „preemption“ nennen: er schwächte die Opposition und trieb sie in die Bedeutungslosigkeit, verschlug zivilgesellschaftliche Organisationen, riss die Kontrolle über die meisten staatlichen Institutionen und Medien an sich und manipulierte Wahlen.
Die Medien zu steuern, war für Lukaschenko doppelt nützlich: Er rückte sich selbst ins rechte Licht und über die Opposition verhängte er sogenannte „Informationsblockaden“. Ihren Wahlkampf bekam kaum jemand mit. Und eigentlich konnte man als einfacher Bürger in Belarus auch ganz gut leben. Bis vor ein paar Monaten dachten Beobachter, die Wahl 2020 würde genauso vorhersehbar werden wie die vorangegangene im Jahr 2015.
Doch Lukaschenkos Herausforderer Sergej Tichanowskij brauchte die Aufmerksamkeit der Staatsmedien nicht. Der berühmte Blogger und Youtuber hatte einen digitalen Draht zur Bevölkerung. Für seine Videos fuhr er aufs Land und sprach mit den Menschen über ihre Nöte. „Die Menschen kannten es nicht von Lukaschenko, dass er sich für ihre Sorgen interessiert“, sagt Dryndova. Sein Gegenspieler habe Lukaschenkos Trümpfe ganz einfach ausgehebelt.
Als Tichanowskij festgenommen wurde, trat seine Frau Swetlana Tichanowskaja überraschend an die Stelle ihres Mannes. Die Wahlkampfleiterinnen zweier weiterer nicht zugelassener Oppositionskandidaten, Veronika Zepkalo und Maria Kolesnikowa, sprangen ihr zur Seite und organisierten ihren Wahlkampf, mobilisierten Anhänger auf Facebook. Allein hätte Tichanowskaja es nicht geschafft, glaubt Dryndova. Sie habe im Wahlkampf Zehntausende Belarussen erreicht, obwohl sie keine politische Agenda hatte. „Das ist in der belarussischen Geschichte einmalig.“
„Tichanowskajas Kandidatur war ein 'Turning Point' im Wahlkampf“, sagt Dryndova. Und doch sei sie eher von symbolischer Bedeutung. „Dass das ganze Land jetzt hinter einer Hausfrau steht – die nicht viel Ahnung von Politik hat – zeigt, wie fertig die Belarussen mit Lukaschenko sind.“ Die Gesellschaft in Belarus ist sehr patriarchal geprägt, erklärt die Politikwissenschaftlerin. Doch an diesem Punkt seien selbst Geschlechterklischees egal.
Armut und Corona – was Lukaschenko die Zustimmung kostete
Die Bevölkerung begehrt aus zwei Gründen gegen Lukaschenko auf: Wegen der Wirtschafts- und der Coronakrise. „Die Lage der Wirtschaft ist im Vorfeld der Wahlen eine Art Schwarzpulver und das Coronavirus die Zündschnur dazu“, schreibt die Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen, für die Dryndova arbeitet, in einer Analyse.
Mehr als 85 Prozent der Belarussen fanden die Reaktion ihrer Regierung auf die Pandemie unzureichend, so eine internationale Studie, an der auch die Harvard Universität beteiligt ist. In der Krise erwies sich die Bevölkerung als der beste Krisenmanager: Die Menschen besorgten Masken und Desinfektionsmittel für Ärzte in Kliniken und sammelten Gelder.
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Der Staat reagierte zu langsam. Und er lieferte den Menschen nicht die nötigen Informationen. Sobald ein neuartiges Virus grassiert, das höchst tödlich für Menschen sein kann, ist Aufklärung unbedingt nötig. „Die Belarussen haben sich nicht ausreichend geschützt gefühlt, und sie waren verärgert“, analysiert Olga Dryndova. Denn Lukaschenko empfahl den Menschen halb im Scherz „Wodka und Trecker“ gegen das Virus. Covid-19 nannte er eine „Psychose“.
Svetlana Tichanowskaja: Eine Hausfrau an der Staatsspitze?
Mit dieser flamboyanten Art, manche würden auch sagen „vulgär“, fiel Lukaschenko schon immer auf. Besonders bei älteren Wählern vom Land, die sich den Kommunismus zurücksehnen, kann der Diktator damit punkten. Der Satz „Lieber Diktator sein als schwul“ kam genauso aus Lukaschenkos Mund.
Und er machte auch klar, wo er Frauen in der Gesellschaft sieht: „Die Hauptaufgabe der Frau ist es, Kinder zu kriegen.“ Frauen gehören für ihn an den Herd. Frauen in der Politik? Eher nicht. „Unsere Verfassung ist so beschaffen, dass Männer ihre Last kaum tragen können – bürden wir sie Frauen auf, wird das arme Ding zusammenbrechen.“
Nach der Wahl floh Swetlana Tichanowskaja ins Exil nach Litauen. Ihr Wahlkampfteam vermutet, die Regierung habe Druck auf sie ausgeübt. Nach ihrer Flucht veröffentlichte sie eine gestelzte Videobotschaft, in der sie von einem Zettel ablas. Sie sagte: „Ich dachte, der Wahlkampf hätte mich abgehärtet und mir die Kraft gegeben, alles durchzustehen. Aber wahrscheinlich bin ich doch die schwache Frau geblieben, die ich zu Beginn war." Lukaschenko wollte das Narrativ vom starken Mann und der schwachen Frau aus ihrem Mund hören.
Eine Woche nach der manipulierten Präsidentschaftswahl ist er es jedoch, der Schwäche zeigt. Seine Reden vor Staatsbetrieben wirken verzweifelt, in immer mehr staatlichen Unternehmen streiken die Arbeiter. Moderatoren des Staatsfernsehens haben am Montag ihre Arbeit niedergelegt, im Fernsehen flackern leere Studios über den Bildschirm.
Die Arbeiter machen den Aufstand komplett, sie sind das Zünglein an der Waage. Olga Dryndova spricht von einem entscheidenden historischen Moment: „Von nun an kann alles passieren, für Lukaschenko als Präsidenten sehe ich aber keine Zukunft.“
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