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Rekordseuche. Im Notlazarett des US Army Camps Funston in Kansas wurden 1918 die ersten mit der Spanischen Grippe infizierten Patienten registriert, an der womöglich mehr Menschen starben als an vergleichbaren Pandemien des Mittelalters, etwa der Pest.
© National Museum of Health and Medicine / dpa

Grippe-Pandemie 1918: Das Virus, das die Welt veränderte

Vor 100 Jahren tötete die Spanische Grippe über 50 Millionen Menschen - mit Auswirkungen sogar für die heutige US-Präsidentschaft.

Die größte Katastrophe des vergangenen Jahrhunderts? Wer danach fragt, wird als Antwort fast immer den ersten oder den zweiten Weltkrieg genannt bekommen. Ein weit größeres Massaker, eines, das nicht nur vorwiegend Europa, sondern wirklich die ganze Welt betraf und nachhaltig veränderte, kommt kaum jemandem in den Sinn. Es kostete etwa 50 bis 100 Millionen Menschen das Leben – mehr als der erste (17 Millionen Tote) und der zweite Weltkrieg (60 Millionen) zusammen. Es starben Männer wie Frauen, vorwiegend im leistungsfähigsten Alter zwischen 20 und 40 Jahren. Die „Spanische Grippe“ dezimierte die Yupik in Alaska und die Menschen in der persischen Stadt Maschhad ebenso wie in New York oder Novosibirsk. Und auch als die weltumspannende Infektionswelle 1920 endlich stoppte, hinterließ sie überall Spuren. Im Kleinen waren das traumatisierte und ruinierte Restfamilien oder überfüllte Waisenhäuser. Aber auch in der großen Politik, etwa dem Ausgang des ersten Weltkriegs und den Ursachen für den zweiten, sehen Historiker heute zumindest Zusammenhänge mit dem Massensterben. Trotzdem ist die Katastrophe aus dem kollektiven Bewusstsein der Völker verschwunden – kaum jemand kennt noch den Ursprung des Namens „Spanische Grippe“, obwohl die Öffentlichkeit damals großen Anteil nahm am Ringen des spanischen Königs Alfons III. mit der Seuche.

Noch immer sind Vögel die Quelle für neue Influenza-Viren

Das Unglück begann mit Albert Gitchell im Camp Funston der US Army in Kansas. Am Morgen des 4. März 1918 klagte der Soldat in der Krankenstation über Fieber, Kopfschmerzen und einen rauen Hals. Binnen Stunden füllte sich das Notlazarett mit über hundert Männern mit den gleichen Symptomen. Sicher war Gitchell nicht der erste, den die Spanische Grippe infiziert hatte, eine besonders aggressive Variante des Influenza-Virus mit dem Kürzel H1N1, wie Forscher heute wissen. Aber er war der erste, der registriert wurde.

Bis heute weiß niemand genau, woher die Viren kamen. Bekannt ist, dass sich die Erreger in Enten und anderen wildlebenden Vögeln entwickeln. 2002 fand der Grippe-Forscher Jeffery Taubenberger Erbgutreste der Viren in Schwarzkopfruder- und Zimtenten, die Naturforscher 1916 irgendwo in Utah geschossen, präpariert und an das Smithsonian Naturkundemuseum in Washington geschickt hatten. Diese Vogelgrippe-Viren waren fast identisch mit jenen Influenza-Viren, die Taubenberger aus Opfern der Spanischen Grippe isoliert hatte, die die Zeit in Gräbern im norwegischen Permafrost überdauert hatten. Seitdem gilt es als sehr wahrscheinlich, dass H1N1 irgendwann vor dem 4. März 1918 vom Vogel auf den Menschen übersprang – und die größte Pandemie der jüngeren Menschheitsgeschichte auslöste.

Jeder dritte Erdbewohner war infiziert

In den zwei Jahren danach infizierten sich schätzungsweise 500 Millionen Menschen mit der Influenza, damals etwa jeder dritte Erdbewohner. Anfangs überstanden die meisten die Symptome, so wie man sich bis heute von der saisonalen Grippe erholt. Doch diesmal kam es anders. Die Infektionswelle ebbte nicht ab, sondern kam im Sommer zurück – aggressiver und tödlicher als je zuvor.

Schon kurz nach der Ansteckung klagten viele Patienten über Atemnot und entwickelten eine Lungenentzündung. Wie als ein Markenzeichen des schweren Verlaufs entwickelten die Patienten zwei rotbraune Flecken auf ihren Wangen, die sich über das Gesicht ausbreiteten „bis man Farbige kaum noch von Weißen unterscheiden konnte“, so zitiert die britische Wissenschaftsjournalistin Laura Spinney einen US-Militärarzt in ihrem bemerkenswerten Buch „1918 – Die Welt im Fieber“. Die Ärzte hatten keinen Schimmer von den Verursachern, Influenzaviren wurden erst 1933 entdeckt. In ihrer Verzweiflung, die Krankheit nicht aufhalten zu können, klammerten sie sich an eine genaue Beschreibung des Verlaufs. Solange die Verfärbung des Gesichts rot blieb, schienen die Patienten eine Chance auf Genesung zu haben. Sobald sich jedoch „eine violette, lavendel- oder malvenfarbene Nuance ins Rot mischte“ waren die Aussichten düster, zitiert Spinney aus den Arztberichten. Allmählich verfärbten sich Hände, Füße und Nägel und am Ende waren auch Bauch und Oberkörper schwarz – „als ob der Tod von den Fingerspitzen aus vom ganzen Körper Besitz ergriff.“

Die Trump-Dynastie - ein Produkt der Spanischen Grippe

Das Außergewöhnliche an Spinneys Blick zurück in die Historie der Spanischen Grippe sind jedoch nicht allein die detailreichen, aus Augenzeugenberichten von Ärzten und Pflegern und mühsam aus Archiven zusammengetragenen Beschreibungen der Seuche selbst. Spinney ist es auch gelungen, ein facettenreiches Bild von den Veränderungen in der Gesellschaft zu zeichnen, die auf die Pandemie zurückzuführen sind. Dabei hat sie sich einer Methode bedient, die afrikanische Frauen im südlichen Afrika nutzen, wenn sie über wichtige Ereignisse im Leben ihrer Gemeinschaft sprechen. „Sie beschreiben es und umkreisen es dann (...) und kehren immer wieder zurück, erweitern es und fügen Erinnerungen und Vorahnungen hinzu“, zitiert Spinney den Historiker Terence Ranger. Der Autorin gelingt das meisterhaft und bringt dem Leser damit nicht nur das biologische Phänomen, sondern auch die sozialen, historischen, geografischen und kulturellen Ebenen der Pandemie näher.

Die wirtschaftlichen Folgen des millionenfachen Todes lassen sich naturgemäß am einfachsten beziffern. Die amerikanischen Lebensversicherer etwa mussten fast hundert Millionen Dollar auszahlen – was heute etwa 20 Milliarden Dollar entspricht. Um die trockene Zahl ein wenig plausibler zu machen, nennt Spinney ein Beispiel: die Witwe und den Sohn eines deutschen Einwanderers, der an der Spanischen Grippe gestorben war, und die ihr Geld in Immobilien investierten. Noch heute profitiert ihr Enkel davon in einem Ausmaß, dass er Milliardär und sogar Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika werden konnte: Donald Trump.

Der Wissenschaft Demut gelehrt

Spannend zu lesen sind auch die Auswirkungen der Spanischen Grippe auf das Vertrauen in die Forschung. „Der Wissenschaft ist es nicht gelungen, uns zu schützen“, schrieb die New York Times damals. Die Pandemie ließ die viktorianische Wissenschafts- und Technikgläubigkeit in sich zusammenfallen, und die Menschen folgten bereitwillig selbsternannten Propheten, Wunderheilern, Chiropraktikern und Homöopathen. Einen großen Unterschied machte es ohnehin nicht, denn selbst wenn die Wissenschaft von den Viren schon gewusst hätte, viel hätte sie nicht ausrichten können. „Die viktorianische Wissenschaft hätte die Welt hart, sauber und kahl hinterlassen, wie eine Mondlandschaft“, zitiert Spinney Arthur Conan Doyle. Nachdem der Erfinder des wissenschaftlichsten aller Detektive, Sherlock Holmes, seinen Sohn durch die Spanische Grippe verloren hatte, wurde er zum Spiritisten, glaubte an „Ektoplasma“ und meinte fortan: „In Wirklichkeit ist diese Wissenschaft nur ein kleines Licht in der Dunkelheit und außerhalb dieses begrenzten Lichtkreises konkreten Wissens werfen gigantische, fantastische Möglichkeiten ständig so bedrohliche Schatten auf unser Bewusstsein, dass es schwierig ist, sie zu ignorieren.“ Die Wissenschaften lernten die Demut kennen. Es könne kein Wissen ohne Ungewissheit geben, sagten etwa die Physiker Niels Bohr und Werner Heisenberg in der Dekade nach der Pandemie.

Darf man diese realistischere Selbstreflexion der Wissenschaft, die Gründung von Gesundheitssystemen, von Wohlfahrtsorganisationen und den wirtschaftlichen Aufschwung in den „Goldenen Zwanzigern“ überhaupt als „positive“ Effekte nach der Seuche bezeichnen – oder wäre das angesichts von Millionen von Toten und Waisen zynisch? Es wäre wohl eine viel größere Katastrophe, hätten die Menschen aus der Pandemie nichts gelernt. Immerhin ist die Menschheit heute gegen die Viren besser gewappnet – sowohl durch Medikamente, als auch Impfstoffe und wachsame Gesundheitseinrichtungen, sagt Giovanni Mancarella von der Europäischen Seuchenbehörde ECDC. Seine Portion Demut hat er jedoch gelernt: „Auch hundert Jahre danach haben wir keinen Mechanismus, um eine erneute Pandemie völlig auszuschließen.“

Laura Spinney: 1918 – Die Welt im Fieber. Wie die Spanische Grippe die Gesellschaft veränderte. Hanser Verlag 2018, 384 Seiten, 26 Euro.

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