Geschichtsbuch: Tücken und Lügen
Geschichte geht weit über Krisen und Kriege hinaus. Der zweite Band des deutsch-französischen Geschichtsbuchs räumt mit Mythen auf. Die Themen haben es in sich.
Ein Festakt für ein Schulbuch? Wenn Berlins Regierender Bürgermeister Klaus Wowereit und der französische Bildungsminister Xavier Darcos am heutigen Mittwoch den zweiten Band des deutsch-französischen Geschichtsbuchs im Deutschen Historischen Museum feierlich vorstellen, ist das dem Gegenstand durchaus angemessen. Wowereit tritt dabei als Bevollmächtigter für die deutsch-französischen Kulturbeziehungen auf.
Schon das erste, 2006 erschienene deutsch-französische Geschichtsbuch über die Zeit nach 1945 war ein großer Wurf. Diesem Anspruch wird auch das zweite Geschichtsbuch gerecht, das ebenfalls in Deutschland vom Klett-Verlag und in Frankreich vom Nathan-Verlag betreut wird. Die Themen des zweiten Bandes haben es in sich: Es geht um die Periode von der Niederlage Napoleons und dem Wiener Kongress bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs.
Was hier erneut Wissenschaftler und Lehrer aus beiden Ländern erarbeitet haben, ist frei von Vorurteilen über Kriegsschuld, von Heldenverehrung, Dolchstoßlegenden, Kriegsverherrlichung oder Rachegefühlen. Es erlaubt den ständigen Wechsel der Perspektiven zwischen zwei Ländern, die sich jahrhundertelang als Erbfeinde betrachtet haben und heute gemeinsam Europa gestalten.
Statt einseitiger Kriegsschulddebatten wird die Verstrickung in den Imperialismus beim Kampf um die Weltherrschaft dargestellt. Die Bündnissysteme voller Tücken und Lügen, die das Wesentliche in Geheimabkommen verbargen, erscheinen nicht mehr als Meisterwerke der Diplomatie, sondern als Vorbereitung für den späteren Weltkrieg. Und der Versailler Vertrag wird als das dargestellt, was er war: eine kurzsichtige Flurbereinigung der Sieger, die den weiteren Weg in das Katastrophenjahrhundert ebnete.
Das gemeinsame Geschichtsbuch bewältigt den Wirrwarr der Fakten und Zahlen mit großen Querschnittsthemen. Die Wirtschaft wird von der industriellen Revolution bis zur Weltwirtschaftskrise in enger Verflechtung mit wissenschaftlich-technischem Fortschritt analysiert. Konjunkturen, befeuert von Spekulationsgeschäften, die von Zusammenbrüchen abgelöst wurden, verlieren das Geheimnisvolle und werden verständlich gemacht. Andere große Querschnittsthemen widmen sich dem Kolonialismus bis zu seinem Untergang nach dem Zweiten Weltkrieg. Phänomene wie die Freizeit in ihrer Verflechtung mit dem Sport und dem Film, heute eine Selbstverständlichkeit, waren damals neu und verdienen ihre Darstellung im jeweiligen Zeitgeist der Geschichte. Selbst die Kunst in ihrer engen Verflechtung mit den sozialen Bewegungen und Katastrophen des 20. Jahrhunderts wird von der Romantik bis zum Surrealismus und der abstrakten Malerei gewürdigt.
Geschichte wird nicht auf die harten Fakten von Kriegen, Verträgen, Krisen und „Großtaten“ der Regierungschefs beschränkt. Es wird auch der Alltag der Menschen abgebildet. Dazu dienen Hilfsmittel wie Grafiken, die in Zahlen darstellbare Entwicklungen aufbereiten. Dokumente von Zeitzeugen, Politikern, Künstlern und Wissenschaftlern, verleiten zum Nachdenken und zum eigenen Urteil.
Die Stärken des zweiten Geschichtsbuchs für die gymnasiale Oberstufe liegen dort, wo eigentlich die größten Kontroversen zu vermuten waren: in der Darstellung der totalitären Bewegungen des 20. Jahrhunderts. Faszination und Verführung durch Ideologien werden eindringlich dargestellt. Der sozialistische Realismus, der im Persönlichkeitskult um Stalin als dem größten Herrscher aller Zeiten mündete, hat genauso der Propaganda gedient wie die Blut-und-Boden-Ästhetik der Nationalsozialisten. Für den Schönheits- und Körperkult der Nazis stehen Arno Brekers Skulptur des nackten Kriegers sowie die Fotos von Leni Riefenstahl von bombastischen Aufmärschen auf Reichsparteitagen. Das Erfolgsrezept der Nazis bei der Bewältigung der Arbeitslosigkeit wird einmal nicht mit den Reichsautobahnen belegt, sondern mit Götz Alys subtiler Analyse der Wohlfühlgesellschaft in der „Kraft-durch-Freude-Bewegung“.
Der Nationalsozialismus lässt sich nicht allein mit der Monsterperson Adolf Hitlers erklären. Die Ausschnitte aus „Mein Kampf“ und Reden Heinrich Himmlers belegen, wie langfristig die Ziele der Rassen- und Lebensraumpolitik angelegt waren und warum sie sowohl in der Judenvernichtung als auch im Krieg um Lebensraum und Vernichtung im Osten mündeten. Zugleich wird das Fehlen von schriftlichen Befehlen Hitlers zur Judenausrottung einleuchtend erklärt mit dem vorauseilenden Gehorsam unzähliger „Führer und Unterführer“ in den nationalsozialistischen Organisationen, in Wehrmacht und Verwaltung. Diese „Ersatzführer“ wussten nur zu genau, dass der eigentliche Führer Adolf Hitler möglichst radikale Lösungsvorschläge sehen wollte. So entstanden Karrieremuster der Grausamkeiten und Verstrickungen in die Verbrechen.
Am Ende steht die große Tabelle der Opfer. Wo findet man schon in den dickleibigen Geschichtsbüchern über diese Zeit solche Tabellen, wie sie das deutsch-französische Schulbuch bietet? Da steht Russland mit den meisten Opfern an oberster Stelle: 20 bis 27 Millionen Tote im Zweiten Weltkrieg sind dort zu beklagen. China folgt mit 15 Millionen Opfern, Deutschland mit 6,8 Millionen, die Juden mit sechs Millionen und Polen mit 5,8 Millionen Opfern. Was sich in der Behandlung der Kriegsgefangenen zwischen dem Ersten Weltkrieg und dem Zweiten Weltkrieg geändert hat, zeigt eine kleine Grafik: Im Ersten Weltkrieg wurden Gefangene nicht vernichtet: 94,6 Prozent der russischen Gefangenen in Deutschland hatten den Krieg bis 1918 überlebt. Im Zweiten Weltkrieg überlebten nur 42,1 Prozent der Russen die Gefangenschaft in Deutschland. Von den britischen und amerikanischen Kriegsgefangenen dagegen überstanden auch im Zweiten Weltkrieg 96,4 Prozent die deutschen Lager. Bei ihnen ging es ja auch nicht um einen rassisch motivierten Lebensraum- und Vernichtungskrieg.
Viele Beispiele belegen, dass das deutsch-französische Geschichtsbuch auf der Höhe der historischen Diskussion ist. Die Oberschüler nehmen teil am Historikerstreit um die Frage, ob der überwölbende Begriff des Totalitarismus einen vergleichenden Zugang zum Nationalsozialismus und dem System Gulag im Stalinismus eröffnet. Die Schöpfer des Totalitarismusvergleichs, Carl J. Friedrich und Hannah Arendt, kommen ebenso zu Wort wie Ian Kershaw, der vor einem oberflächlichen Vergleich von Ähnlichkeiten warnt.
Natürlich muss man immer in Rechnung stellen, dass es ein deutsch-französisches Geschichtsbuch ist. Ein deutsch- amerikanisches, deutsch-russisches oder deutsch-britisches Geschichtsbuch würde manche Akzente anders setzen. Aber vielleicht werden Länder und Verlage das gelungene Beispiel der deutsch- französischen Aufarbeitung der Vergangenheit zur Nachahmung ermutigt.
Daniel Henri, Guillaume Le Quintrec und Peter Geiss (Hrsg.): Europa und die Welt vom Wiener Kongress bis 1945. Klett Verlag, Stuttgart 2008. 385 Seiten, 26,95 €.
Uwe Schlicht
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