Kolumne "Was Wissen schafft": Das Märchen vom unschädlichen Cholesterin
Erhöhte Blutfette sind kein erfundenes, sondern ein durchaus reales Risiko. Und cholesterinsenkende Medikamente können vielen Betroffenen helfen, meint unser Autor.
Eigentlich ist mein Bekannter ein klarer Fall. Ein Mann im schon gesetzten Alter, war er knapp einem Herzinfarkt entronnen und hatte eine Gefäßstütze, einen Stent, in eines seiner Herzkranzgefäße eingesetzt bekommen. Die Ärzte verordneten ihm unter anderem ein Medikament gegen hohes Cholesterin aus der Gruppe der Statine. Das ist heutzutage Standard bei Herzkranken. Dennoch, bald danach setzte mein Bekannter das Statin ab. Nicht, weil er es schlecht vertrug, sondern aus Angst vor „Chemie“.
Vor kurzem konnte er sich bestätigt fühlen, als eine große Zeitung die Geschichte vom „bösen Cholesterin“ als Medizin-Mythos entlarvte. Allein steht die Zeitung damit nicht. Wer im Internet die Wort „Cholesterin“ und „Lüge“ oder „Mythos“ eingibt, wird schnell und reichlich fündig. Von den Fettsenker-Medikamenten profitiere vor allem die Pharmaindustrie, Cholesterin sei lebenswichtig und hohe Blutfettwerte deshalb halb so schlimm.
Es stimmt, die als Cholesterinsenker verordneten Statine waren über lange Zeit ein extrem gutes Geschäft für die Industrie. Mit dem Statin-Wirkstoff Atorvastatin hat die Pharmafirma Pfizer in den Jahren von 1996 bis 2011 mehr als 120 Milliarden US-Dollar umgesetzt. Inzwischen ist der Patentschutz für die wichtigen Statine gefallen, und mit ihm dank billiger „Nachbauten“ auch die Preise.
Es trifft ebenfalls zu, dass Cholesterin, eine wächserne, fettähnliche Substanz, ein Grundbaustein für Zellmembranen, Gallensäuren, Hormone und Vitamin D ist. Kochsalz ist für den Organismus lebenswichtig. Aber das ist kein Grund, sich nur noch von Gesalzenem zu ernähren. Schließlich entfernen Statine das Cholesterin nicht aus dem Blut, sondern bremsen nur die Produktion in der Leber.
„Halb so schlimm“ sind hohe Cholesterinwerte jedoch nicht. Zusammen mit Bluthochdruck, Zuckerkrankheit, Rauchen, Fettsucht, Trägheit und weiteren Faktoren erhöhen sie das Risiko für Herz- und Gefäßleiden. Cholesterin kann sich in den Schlagadern ablagern und sie gefährlich verengen. Verschließt sich ein Gefäß, etwa im Herz, kommt es zum Infarkt. Menschen mit einem niedrigen Risiko für eine koronare Herzkrankheit, also verengte und verkalkte Herzkranzgefäße, leben im Mittel zehn Jahre länger als solche mit einem hohen Risiko. Durchblutungsstörungen des Herzens sind weltweit die Todesursache Nummer eins, Risikofaktoren und ihre Behandlung sind deshalb keine Kleinigkeit.
Statine sind beileibe keine Wundermittel. Aber sie sind die einzigen Medikamente, deren Nutzen beim Vorbeugen oder dem Behandeln einer koronaren Herzkrankheit klar belegt ist, nämlich durch bessere Überlebenschancen. Dabei gilt die Faustregel, dass diejenigen, die am meisten gefährdet sind, auch am stärksten profitieren. Das sind in erster Linie Patienten, die bereits herzkrank sind, wie mein Bekannter. Wer einen Herzinfarkt hinter sich hat, der trägt ein 20-fach höheres Risiko, an einer koronaren Herzkrankheit zu sterben, als eine Person ohne bekannte Herzkrankheit.
Das erklärt, warum die Therapie mit Cholesterinsenkern in dieser Gruppe unter Experten unstrittig ist. Dabei ist es kaum von Bedeutung, wie hoch der Cholesterinwert ist. Das liegt vermutlich daran, dass die Statine nicht nur das „böse“ LDL-Cholesterin senken, sondern noch weitere günstige Wirkungen haben, etwa Entzündungen im Körper mildern und die Gefäße schützen. Die zweite Gruppe, für die eine Statintherapie infrage kommt, sind Personen ohne bekanntes Herzleiden, aber mit erhöhten Cholesterinwerten oder anderen wesentlichen Risikofaktoren wie der Zuckerkrankheit Diabetes.
Wer aus dieser Gruppe behandelt werden sollte und auf welche Weise, darüber wird unter Fachleuten immer wieder heftig diskutiert. Zuletzt vor einem Jahr, als die amerikanischen Fachgesellschaften neue Richtlinien für die Behandlung hoher Cholesterinwerte veröffentlichten. Geradezu revolutionär war der Vorschlag, künftig bei der Therapie auf bestimmte Zielwerte für das LDL-Cholesterin zu verzichten. In den meisten Studien, in denen Statine getestet wurden, wurde ähnlich verfahren, deshalb die Änderung. Der Disput zeigt, dass die Behandlung nicht ein für alle Mal dogmatisch festgelegt ist, sondern immer aufs Neue verbessert werden muss. Alles andere wäre tatsächlich ein Grund zur Sorge.
Hartmut Wewetzer