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Zurück in die Zukunft. Die Teilchenschauer, die in den riesigen Detektoren wie dem CMS aufgezeichnet werden, erlauben eine Reise zur ersten Sekunde des Universums nach dem Urknall.
© AFP

Neustart des Beschleunigers LHC: Das Higgs-Teilchen war nur der Anfang

Zurück in die Zukunft: Nach zwei Jahren Pause soll der Beschleuniger LHC, der bereits die Existenz der Higgs-Teilchen erwies, nun nach weiteren Teilchen suchen – in der Hoffnung, eine „neue“ Physik zu entdecken, jenseits des Standardmodells.

Die Zeit schien stillzustehen, an jenem 4. Juli. Hunderte Zuschauer waren in einen Saal des europäischen Kernforschungszentrums Cern nach Genf gekommen. Sie interessierten sich für die Ergebnisse zweier Teams, die die Antwort auf eine der großen Fragen der Physik der Öffentlichkeit vorstellen wollten. Die Forscher präsentierten Grafiken, Gleichungen und Zahlen, am Ende gab es überwältigenden Applaus und einen überwältigten Peter Higgs. Der weißhaarige Schotte hatte zusammen mit weiteren Physikern vor einem halben Jahrhundert eine Theorie entwickelt, die erklärt, wie Elementarteilchen ihre Masse erhalten. Nun war das Gedankengebäude bewiesen worden: Das vorhergesagte Higgs-Teilchen existiert.

Knapp drei Jahre ist das her, der Beschleuniger LHC (Large Hadron Collider) wurde bald darauf für Wartungsarbeiten abgeschaltet. Im Tunnel haben Techniker hunderte Verbindungen zwischen den Magneten erneuert, die vier hausgroßen Detektoren mit neuen Sensoren ausgestattet und die Vorbeschleuniger verbessert. Der Beschleunigerkomplex ist nun doppelt so leistungsfähig wie zuvor. Mit 99,9 Prozent der Lichtgeschwindigkeit jagt er die Teilchen über den 27 Kilometer langen Rundkurs. Binnen einer Sekunde schaffen sie mehr als 11 000 Umläufe.

„Wir haben eine komplett neue Maschine“, sagt Rolf Heuer. Der deutsche Physiker ist Generaldirektor des Cern. Vor allem die Verbindungen zwischen den supraleitenden Magneten, die die elektrisch geladenen Teilchen mit enormer Kraft auf ihrem Ringkurs halten, mussten verstärkt werden. „Wenn sie in Betrieb sind, entspricht die in ihnen gespeicherte Gesamtenergie derjenigen eines Supertankers, der mit 30 Knoten fährt“, sagt Heuer. Ende des Monats soll die komplexeste Maschine der Welt wieder der Forschung zur Verfügung stehen.

Die neue Physik fängt an, wo das Standardmodell endet

Denn der LHC wurde nicht allein wegen des mysteriösen Higgs-Teilchens gebaut. Bereits vor der Wartung haben tausende Forscher weitere Theorien mit der gewaltigen Experimentiermaschine überprüft. Diese Arbeit geht nun weiter. Ihre Hoffnung, eine „neue Physik“ zu entdecken, ist groß. Sie würde dort anfangen, wo das heutige Standardmodell endet. Dieses Modell beschreibt zwar alle bekannten Elementarteilchen sowie die drei grundlegenden Wechselwirkungen zwischen ihnen sehr erfolgreich. Die vierte Kraft der Physik, die eigenwillige Gravitationskraft, entzieht sich ihm jedoch. Daher suchen Physiker nach einer umfassenderen Theorie. Zumindest einige Bausteine dafür könnte der LHC beitragen. Das besondere Augenmerk der Forscher gilt Phänomenen wie der Supersymmetrie und Dunkler Materie.

„Die Dunkle Materie verrät sich nur durch die Bewegungen der Sterne und Galaxien“, sagt Heuer. Die kosmischen Objekte müssten auseinanderfliegen, wenn man allein die sichtbare Materie und deren Gravitationskraft berücksichtigt. Weil sie das nicht tun, vermuten Astrophysiker, dass es eine unsichtbare Form von Materie gibt, die zusätzliche Gravitation ausübt. Aus welchen Teilchen diese „Tarnkappen-Materie“ besteht, die Berechnungen zufolge fünfmal häufiger vorkommt als die uns vertraute Materie, weiß keiner. Einige Kandidaten könnte der LHC durchaus entdecken, sagt Heuer. Die noch rätselhaftere Dunkle Energie wird sich den Cern-Forschern wohl entziehen, solange überzeugende theoretische Erklärungsansätze fehlen. Diese Energie treibt die schneller werdende Ausdehnung des Universums voran.

Eine Zeitreise zur ersten Sekunde nach dem Urknall

Der LHC kann mit zwei Teilchenarten betrieben werden: mit Protonen, den leichten Atomkernen des Wasserstoffs, und mit schweren Blei-Atomkernen. Die meiste Zeit läuft der LHC mit den Protonen. Damit entdeckten die Cern-Forscher etwa das Higgs-Teilchen. In diesem Modus erreicht der Beschleuniger Bedingungen, wie sie mutmaßlich eine Zehntelmilliardstel Sekunde nach dem Urknall herrschten. Mit den schwereren Blei-Atomkernen geht die Zeitreise zurück in die erste Millionstel Sekunde.

Die Protonenpakete werden ins Teilchenkarussell geschickt

Für die Untersuchungen werden zunächst mehrere Protonenpakete in das Teilchenkarussell geschickt, aneinandergereiht wie Eisenbahnwaggons. Der LHC besteht aus zwei Beschleunigerringen, in denen jeweils rund 2800 solcher Pakete in gegenläufiger Richtung kreisen. An vier Stellen können die nahezu mit Lichtgeschwindigkeit aufeinander zurasenden Pakete zur Kollision gebracht werden.

Die vier Punkte liegen jeweils im Zentrum eines großen Detektors wie „Atlas“ und „CMS“. Jeder Detektor funktioniert wie eine Kamera und nimmt 3-D-Schnappschüsse der Teilchenkollisionen auf. Die dabei freigesetzte Bewegungsenergie erzeugt einen Schauer vieler verschiedener Teilchen. Dahinter steckt Einsteins berühmtes E = mc2, wonach Masse (m) und Energie (E) zwei Seiten derselben Medaille sind (c: Lichtgeschwindigkeit). Die Detektoren zeichnen die Bahnen und Bewegungsenergien der neu entstandenen Teilchen auf.

Nebenbei erfand ein Forscher das World Wide Web

Rund 600 Millionen Protonencrashs werden pro Sekunde in den Herzen von Atlas und CMS geschehen. Die meisten liefern keine nützlichen Informationen. Daher filtern die Detektoren direkt nach der Aufnahme aus einer gigantischen Datenmenge die seltenen Ereignisse heraus, die eine genauere Untersuchung wert sind. Nach mehreren Schritten bleibt immer noch eine enorme Datenfülle übrig. Durch diese müssen sich Tausende von Wissenschaftlern fressen, natürlich mithilfe von Computern. Teilchenphysiker sind Big-Data-Pioniere. Um der schieren Menge an Informationen Herr zu werden, treiben sie die Entwicklung neuer Technologien der Informationsverarbeitung voran. So erfand der britische Cern-Forscher Tim Berners-Lee Ende der achtziger Jahre das World Wide Web.

In der aktuellen Forschungsetappe wollen die Wissenschaftler unter anderem der Supersymmetrie nachspüren, abgekürzt „Susy“. Die Karlsruher Physiker Julius Wess und Bruno Zumino haben sie in den 1970er Jahren erdacht. Susy könnte die Sehnsucht der Physik nach Einfachheit befriedigen. An den immer stärkeren Beschleunigern zeigte sich schon länger: Je höher die Crashenergie ist, desto stärker nähern sich die drei Grundkräfte des Standardmodells, die elektromagnetische Kraft, die schwache sowie die starke Kernkraft, einander an. Sie könnten also ganz am Anfang im superheißen, superkompakten Babyuniversum in einer „Urkraft“ vereinigt gewesen sein. Diese Vereinigung funktioniert aber nur, wenn die heute existierenden Teilchen damals „Superpartner“ hatten, regelrechte Spiegelbilder. Laut Susy-Theorie wäre diese Schattenwelt zwar heute weitgehend untergegangen. Aber das leichteste Susy-Teilchen, ein Neutralino, sollte existieren. Es könnte eines jener Teilchen sein, aus denen Dunkle Materie bis heute besteht.

Die Forscher suchen zum Beispiel Higgs-Zwillinge

„Susy wäre eine Tür ins dunkle Universum“, sagt Heuer. „Allerdings fordert die Supersymmetrie ebenfalls, dass es mehr als ein Higgs-Teilchen gibt.“ Nach der Theorie sollte das Higgs-Teilchen Zwillinge mit kleinen Abweichungen haben. Die Suche nach solchen Higgs-Zwillingen steht deshalb oben auf der To-do-Liste der Cern-Forscher. Finden sie diese, liegt die Susy-Theorie wahrscheinlich richtig. Dann wäre das Universum am Anfang einfacher gewesen.

Mit den Symmetrien hat noch ein weiteres Rätsel zu tun. Nach allen Beobachtungen besteht das heutige Universum allein aus Materie. „Wo ist die Antimaterie geblieben?“, fragt Heuer. Direkt nach dem Urknall hätte die Energie des abkühlenden Kosmos eigentlich zu exakt gleichen Anteilen von Antimaterie und Materie führen müssen. Allerdings können die beiden Materieformen nicht nebeneinander existieren. Binnen kürzester Zeit hätten sie sich gegenseitig vernichtet; der Kosmos wäre heute ein leerer Ort, nur von Strahlung erfüllt. Das geschah zwar tatsächlich, doch in der Spiegelbildlichkeit zwischen den zwei Materieformen gab es eine Abweichung. Dadurch blieb ein winziger Materieüberschuss übrig: jener Teil, aus dem alle Galaxien, Sterne, Planeten – und wir selbst – bestehen. Die Ursache für das winzige Materieplus, sozusagen den Sprung im kosmischen Spiegel, suchen die Cern-Forscher ebenfalls.

Es gibt bereits Pläne für einen noch größeren Beschleuniger

Bis 2030 könnte der LHC laufen. Längst gibt es Pläne, einen Beschleunigerring mit 80 oder gar 100 Kilometer Umfang zu bauen. Denn eine weniger gekrümmte Bahn sowie stärkere Magnete ermöglichen es, noch schnellere Protonen auf einer Kreisbahn zu halten. Stoßen sie zusammen, ist die Wucht größer, entstehen noch schwerere Teilchen, die bisher kein Beschleuniger hervorbrachte. Der FCC (Future Circular Collider) könnte eine sieben- bis zehnmal so hohe Crashenergie liefern wie der LHC. Es wäre wieder eine Maschine hart an der Grenze des technisch Machbaren. Entschieden ist nichts, aber schon jetzt ist klar: Der Bau würde einen zweistelligen Milliardenbetrag verschlingen. Und es müssten dafür völlig neue Technologien entwickelt werden.

„Natürlich ist das vordringliche Ziel die Mehrung des Wissens“, sagt Heuer angesichts solcher Vorhaben. Man dürfe aber nicht jene Entwicklungen außer Acht lassen, die nebenbei entstehen und mit denen die Teilchenphysik der Gesellschaft unmittelbar etwas zurückgibt. Wie das World Wide Web. Damit haben die Genfer schon einmal unsere Kultur so radikal verändert, wie es kaum eine andere Erfindung des 20. Jahrhunderts vermochte. Keiner kann sagen, was als Nächstes kommt. Die Zeit läuft.

Roland Wengenmayr

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