Klimawandel: Das große Schmelzen und seine Folgen
In bisherigen Modellen wurden die großen Eisschilde oft als konstant betrachtet. Dabei könnte ihr Schmelzwasser die Effekte des Klimawandels noch verstärken.
In Klimamodellen geht es unter anderem darum, wie stark die Eismassen nahe den Polen abschmelzen werden. Da mutet es geradezu absurd an, dass mögliche Folgen des Schmelzens ihrerseits bislang in Klimamodellen kaum eine Rolle gespielt haben. Die schmelzenden antarktischen und grönländischen Gletscher flossen in sie als konstante Größen ein. Zwar gab es immer wieder Studien, die etwa den lokalen Einfluss von Schmelzwasser auf Meeresströmungen zum Thema hatten.
Doch das, was ein internationales Forscherteam jetzt vorlegt, gab es bisher nicht: Die Wissenschaftler beziehen diese Eisschilde und deren Veränderungen in globale Berechnungen für das gesamte laufende Jahrhundert ein. Ihre Modellierungen, die sie im Fachblatt "Nature" veröffentlichen, legen nahe, dass das Schmelzen der Eismassen immensen Einfluss auf das Klima haben könnte, der sich ab 2050 noch verstärkt.
Das Klimamodell dient für politische Entscheidungen
Nicholas Golledge und seine Kollegen von der "Victoria University of Wellington" in Neuseeland kombinierten hochaufgelöste Satellitendaten des Eisrückgangs der letzten Jahre mit komplexen mathematischen Modellen, um zukünftige Szenarien am Computer zu simulieren.
Dabei legten sie die Rahmenbedingungen des Modells zugrunde, das auch der Weltklimarat (Intergovernmental Panel on Climate Change, IPCC) benutzt. Darin werden sehr viele Variablen und Wahrscheinlichkeiten einbezogen, was globale Voraussagen über Jahrzehnte bis Jahrhunderte erlauben soll. Weltweit dienen diese Simulationen als Basis für politische Entscheidungen zu Klimazielen. Dazu gehört auch das 1,5-Grad-Ziel, auf das man sich in Paris einigte.
Die Forscher nahmen für ihre Berechnung bis 2100 eine Erderwärmung von drei bis vier Grad Celsius im Vergleich zum vorindustriellen Zeitalter an. Dieser Anstieg gilt als wahrscheinlich, wenn sich die Treibhausgasemissionen nicht drastisch verringern.
Antarktische Eisschilde schmelzen unregelmäßig
Laut den Berechnungen wird das Süßwasser, das durch langsames Abschmelzen der Eisschilde ins Meer gelangt, das Klima auf mehrere Arten beeinflussen. So modellierten die Forscher, wie das Schmelzen der Eisdecke in Grönland und der Antarktis sich auf den Meeresspiegel auswirken wird. Demnach dürfte das Grönlandeis bis zum Jahr 2100 eher gleichmäßig abschmelzen, während die antarktische Eisdecke in den Prognosen zunächst langsamer schmelzen wird, später aber deutlich schneller.
Das hätte zur Folge, dass auch der Meeresspiegel nicht zu jeder Zeit gleich schnell ansteigt. Nach den Daten der Wissenschaftler wäre der schnellste Anstieg zwischen 2065 und 2075 zu erwarten – unter der Voraussetzung, dass die Emissionen von Treibhausgasen über das gesamte 21. Jahrhundert weiter zunehmen werden.
Schmelzwasser verlangsamt Meeresströmungen
Die Wissenschaftler um Nicholas Golledge beschreiben noch einen weiteren Rückkopplungseffekt. Das zunehmende Schmelzwasser wird in ein paar Jahrzehnten die Atlantische Meridionale Umwälzbewegung (Atlantic Meridional Overturning Circulation, AMOC) deutlich abschwächen. Diese gigantische Pumpe bringt warmes Oberflächenwasser aus den Tropen Richtung Europa und sorgt so für das milde Klima hierzulande.
Das Schmelzwasser der Eisschilde könnte für diese Pumpe wie Sand im Getriebe wirken. "Es verhindert das Absinken von kaltem und salzhaltigem Wasser, das normalerweise als Antrieb für die AMOC fungiert", sagt Torsten Albrecht vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung. Gleichzeitig bilde das Schmelzwasser eine Isolationsschicht. Unter dieser staut sich relativ wärmeres Wasser in Tiefen von 400 bis 500 Metern an. "Schon ein Temperaturanstieg um 0,1 Grad in dieser Tiefe könnte das Schmelzen des Schelfeises enorm verstärken", sagt Albrecht.
Das wiederum würde dazu führen, dass immer mehr Schmelzwasser die AMOC abschwächt und der Meeresspiegel weiter steigt. Diesen aber sollte man sich nicht wie in einer Badewanne vorstellen, in der die Wasserhöhe gleichmäßig ansteigt, wenn Wasser dazukommt. Während bestimmte Regionen der Erde, etwa manche Inselstaaten im Pazifik, mit deutlich höheren Wasserständen zu kämpfen hätten, würde in der Nähe der Eisschilde der Meeresspiegel sogar sinken, prognostizieren die Autoren. Auch das sei maßgeblich auf die Strömungen und die Wärmeverteilung im Ozean zurückzuführen, erklärt Marilena Oltmanns, physikalische Ozeanologin am Geomar – Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung in Kiel.
Auch die Lufttemperatur wird beeinflusst
Aber diese Strömungen haben nicht nur Auswirkungen auf den Meeresspiegel, sondern auch auf die Lufttemperatur. Und diese unterscheiden sich deutlich zwischen der nördlichen und südlichen Hemisphäre. Während im Nordosten Grönlands und der Arktis leicht höhere Temperaturen im Vergleich zum Referenzjahr 2000 zu erwarten wären, käme es ab einer südlichen Breite von etwa 40° zu einer deutlichen Abkühlung der Luft, teilweise sogar um bis zu vier Grad Celsius, etwa über der Antarktis.
Mitteleuropa habe nach den Daten der Forscher mit etwa einem halben Grad Abkühlung zu rechnen. "Dabei ist aber zu beachten, dass lediglich der Einfluss der Eisschilde beschrieben wird", sagt Oltmanns. Der berechnete Temperaturrückgang von einem halben Grad müsse beispielsweise im Verhältnis zu der treibhausgasbedingten Temperaturerhöhung betrachtet werden. Diese werde den Effekt vermutlich mehr als ausgleichen.
"Eine Erwärmung von 1,5 Grad muss das Ziel bleiben"
"Insgesamt zeigt die Studie eindrücklich, dass die Einbeziehung der Änderung der Eisschilde einen starken Einfluss auf die globale Ozeanzirkulation, den Meeresspiegelanstieg und die Oberflächentemperatur hat", sagt Oltmanns. Die Ergebnisse sollten auf jeden Fall in künftige Forschungsaktivitäten einfließen. Welche konkreten Veränderungen sich daraus ergeben würden, lasse sich aus ihnen jedoch nur schwer ableiten. Das liege auch an der "recht groben Auflösung" des verwendeten Modells.
Der Vorteil des Ansatzes sei demgegenüber, lange Zeiträume erfassen zu können, sagt Torsten Albrecht vom PIK. "Ich halte die Studie für sehr gut gemacht und ihre Ergebnisse für robust". Bisher habe man die Rückkopplungen, die sich aus dem Schmelzen von Eisschilden ergeben, oft vernachlässigt. Jetzt sei erstmals in dieser Form untersucht worden, welche enormen Auswirkungen das Schmelzwasser auf das globale System habe.
"Je mehr wir wissen, desto besser verstehen wir, wie empfindlich dieses System für Veränderungen ist", sagt Albrecht. "Alles, was wir bisher herausgefunden haben, waren konservative Annahmen." Der Forscher ist sicher, dass die neuen Erkenntnisse auch in den "Sechsten Sachstandsbericht" des Weltklimarats Einzug finden, der Anfang 2021 erscheinen soll. Für die Politik allerdings sei auch in Zukunft das bestehende Ziel unverändert gültig: "Wir müssen weiter bei 1,5 Grad Erwärmung bleiben."