Psychologie: Das Glück der Pessimisten
Positiv denken! Diesen Rat hören Pessimisten ständig. Sie sollten sich davon nicht unter Druck setzen lassen, meint unsere Autorin. Glück lässt sich nicht planen. Ein Kommentar.
Am Tag 86 erwartete Aleksander Gamme nichts mehr. Der Norweger hatte auf seiner Antarktisexpedition 25 Kilo abgenommen, er war müde und erschöpft. Der Weg durch die Eiswüste, jeden Tag zehn Stunden auf Skiern, fiel ihm immer schwerer. Um sich zu motivieren und sich von Lasten zu befreien, hatte er entlang seiner Route kleine Vorräte vergraben. Nun kam er auf dem Rückweg an seinem letzten Lager an, schlecht gelaunt und hungrig. Er hatte vergessen, was dort auf ihn wartete. „Hoffentlich was Gutes“, murmelte er in die Kamera, die seine Reise dokumentierte: „Was für eine Lotterie.“
Der Film zeigt, wie er niederkniet, die blaue Tasche aus dem Schnee zerrt, darin kramt. Von einer Sekunde auf die andere schlägt seine Stimmung um. „Jaaaaaa!“, schreit er immer wieder und hält ungläubig staunend eine Tüte Chips in die Höhe. „Jaaaa! Jaaaaaaaa! Jaaaaa!“ Er wirft sie in den Schnee, wird still und starrt in die Ferne. Ist das wirklich passiert? Er packt weiter aus: Schokolade, Gummibärchen, Mentos, Cracker. Gamme kann es kaum fassen. Er lacht, er schreit, er wirft sich auf den Boden. Nach ein paar Minuten beginnt er, „Hallelujah!“ zu singen. Es ist ein Moment der Glückseligkeit. Wer das Video sieht, muss unwillkürlich lächeln. Dieses Glück ist ansteckend.
Während die Philosophen seit Jahrtausenden debattieren, was Glück bedeutet, ist es neurobiologisch besser fassbar: ein Cocktail gehirneigener Opioide wie Endorphine, die ein flüchtiges Hochgefühl erzeugen. Wer danach strebt, hat schon verloren. Denn je fester wir unseren Blick darauf heften, desto mehr entzieht es sich uns. Zufriedenheit dagegen ist beständiger. Diese innere Ausgeglichenheit ist teils genetisch bedingt, teils durch Erfahrungen geprägt. Wie zufrieden ein Mensch ist, kristallisiert sich ab dem fünften Lebensjahr heraus, sagt der Bremer Hirnforscher Gerhard Roth. Die Einteilung in Optimisten und Pessimisten bleibe danach lebenslang bestehen – egal, wie sehr wir uns bemühen, „positiv zu denken“.
Glückliche Menschen leben länger? Ein Fehlschluss.
Und Pessimismus kann durchaus eine gute Strategie sein, das Leben zu meistern. Seit Urzeiten. Wer sich vor wilden Tieren fürchtet, begibt sich vermutlich nicht unbewaffnet in den Wald. Wer nicht gleich alles in den Mund steckt, bleibt vor mancher giftiger Beere verschont. Diese Vorsicht steckt in vielen Menschen, ihre Ängstlichkeit lässt sich nicht einfach abschalten. Pessimismus ist ihr Weg, damit umzugehen: Statt vor einer Situation wegzulaufen, schrauben sie ihre Erwartungen runter. Sie spielen durch, was schiefgehen könnte und überlegen sich, wie sie das verhindern können. Am Ende sind sie bestens vorbereitet. Wenn alles klappt, sind die Erleichterung, die Überraschung, die Freude vielleicht sogar größer. Gammes Grantelei, die sich in pure Freude verwandelt, ist ein Beispiel dafür. Die amerikanische Forscherin Julie Norem nennt das „defensiven Pessimismus“.
Aber heißt es nicht immer, dass glückliche (zufriedene) Menschen gesünder sind und länger leben? Ein Fehlschluss, urteilten kürzlich Forscher um Bette Liu von der Universität von New South Wales in Australien. Krankheit mache unglücklich, Krankheit führe zum vorzeitigen Tod. Aber Unglück mache nicht krank, schreiben die Wissenschaftler in der Zeitschrift „Lancet“. Sie werteten die Daten von fast 720 000 Britinnen aus, deren Gesundheit und Wohlbefinden langfristig verfolgt wird. In Befragungen schätzten sich fünf von sechs der im Durchschnitt 60-jährigen Frauen als „meistens glücklich“ ein, eine von sechs als „meistens unglücklich“. In den nächsten zehn Jahren starben etwa 30 000 der Frauen. Als die Statistiker die Effekte durch bestehende Krankheiten und den Lebensstil herausrechneten, war nichts mehr übrig von dem Mythos, dass Glück, Zufriedenheit und wenig Stress das Leben verlängern. Bisher habe man Ursache und Wirkung verwechselt, meinen sie. Entwarnung, zumindest für Frauen.
Es wird niemanden daran hindern, sich nach Glück zu sehnen. Zu Weihnachten geben wir uns besonders große Mühe, es heraufzubeschwören – mit Ritualen wie dem Kirchgang, dem Festessen, dem Glöckchen, das die Kinder am Heiligabend in die Stube ruft. Die Ansprüche sind hoch, die Ernüchterung programmiert. Aber um wie Gamme beim Anblick von Süßigkeiten in Ekstase zu geraten, muss man eine Zeit der Entsagung hinter sich haben. Das kann man niemandem wünschen.