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Hochschul-Absolventen in China feiern ihren Abschluss mit Doktorhüten auf dem Kopf - und vor einer überdimensionalen chinesischen Fahne.
© Aly Song/Reuters

Von Annäherung keine Spur: Chinas patriotische Studierende in Deutschland

Immer mehr junge Chinesen studieren im Westen, allein 40.000 in Deutschland. Doch oft fremdeln sie mit den Werten dort, statt sie für sich zu entdecken.

„In Amerika ist das Recht auf freie Meinungsäußerung heilig. Freiheit ist Sauerstoff. Freiheit ist Leidenschaft. Freiheit ist Liebe.“ Diese Sätze aus der Abschlussrede einer jungen Studentin an der University of Maryland klingen nach dem üblichen Pathos des US-Patriotismus. Dass die Rede zu einer internationalen Kontroverse führte, liegt an der Herkunft der Studentin. Yang Shuping stammt aus China. Ihre Rede war damit auch eine Kritik der Verhältnisse in ihrem Heimatland. „Als ich meinen ersten Atemzug amerikanischer Luft nahm, konnte ich meine Maske abnehmen und frei atmen,“ sagte sie. „Ich atmete zum ersten Mal die frische Luft der freien Rede.“ Dafür sei sie für immer dankbar.

Ihr Publikum in Maryland jubelte ihr zu. Doch als sich das Video vor zwei Jahren rasend schnell im Internet verbreitete, wurde sie von chinesischen Medien aufs Korn genommen. Sogar das chinesische Außenministerium äußerte sich zu dem Vorfall. Chinesen im Ausland sollten sich „verantwortungsvoll“ verhalten, wenn sie über ihr Heimatland redeten. Man unterstütze chinesische Studenten im Ausland, „solange sie von tiefem Herzen ihr Land lieben.“ Nur einen Tag nach ihrer Rede entschuldigte sich Yang Shuping. „Ich liebe mein Land", sagte sie. „Meine Rede tut mir sehr leid und ich hoffe, dass mir vergeben wird.“

Eigenes Gesellschaftsmodell statt Öffnung

Als China 2001 der Welthandelsorganisation beitrat, glaubten viele im Westen, dass damit der erste Schritt zur Öffnung des Landes gemacht sei. Chinas Einbettung in die globalisierte Wirtschaft würde dazu führen, dass sich das Land nach westlichem Vorbild liberalisiere. Die Entwicklung hat freilich eine andere Richtung eingeschlagen. Die Herrschaft der Kommunistischen Partei ist so unangefochten wie eh und je, und anstatt sich den Westen zum Vorbild zu nehmen, vertritt China immer selbstbewusster sein eigenes Gesellschaftsmodell.

Dabei ist China heute ein hoch globalisiertes Land, das in immer größerem Austausch mit der Welt steht. Hunderttausende Chinesen gehen jedes Jahr ins Ausland, um zu studieren, 2018 waren es mehr als 800.000, so viele wie nie zuvor. In Deutschland bilden sie mit fast 40.000 Studenten die größte internationale Gruppe.

Eine von ihnen ist Yu Yan. Sie hatte in China Germanistik studiert, dann ein Austauschjahr in Göttingen und anschließend einen Master in European Studies in Leipzig absolviert. Heute arbeitet sie in einer NGO in Berlin. Eine hochgebildete, junge Frau also, die viel von der Welt gesehen hat – und die dennoch kein Problem mit der Einparteienherrschaft in China hat. „Ich habe Vertrauen in die chinesische Regierung, eine Demokratie wie im Westen wünsche ich mir in China nicht“, sagt sie. Auch dass die chinesischen Medien von der Regierung kontrolliert werden, störe sie nicht, „die Regierung hat wohl Angst, dass die Leute auf Fake-News hereinfallen.“

"Blick von oben herab" auf chinesische Studierende

Im Westen gäbe es eine große Furcht vor China, meint Yu Yan, „aber gleichzeitig auch einen Blick von oben herab.“ Nicht wenige Deutsche begegneten ihr mit rassistischer Überheblichkeit, und auch wie über ihr Land geredet wird, empfindet sie oft als arrogant. „Chinesen sind sehr empfindlich, was das angeht, sie sind stolz. Ihnen gefällt, dass Xi Jinping ein ‚Hardliner' gegen den Westen ist.“

Unter Xi Jinping floriert der chinesische Patriotismus. Der von ihm verkündete „Chinesische Traum“ verspricht auch, dass China seinen rechtmäßigen Platz als Weltmacht wieder einnehmen wird. Die Demütigungen des letzten Jahrhunderts, als westliche Mächte das Land nach Belieben besetzt und herumgeschubst hatten, sollen sich nie wiederholen. Im Westen gibt es wenig Bewusstsein für diesen Teil der chinesischen Geschichte. Yu Yan erinnert sich, wie sie mal in einem Seminar an der Universität in Deutschland gefragt wurde, wie viele Kolonien Deutschland früher hatte. Sie wusste als Einzige die richtige Antwort (sieben), denn eine der deutschen Kolonien befand sich in China.

In dieser nationalistisch aufgeladenen Atmosphäre wird auch die ideologische Linie der KP immer nachdrücklicher vertreten. Das berühmte „Dokument Nummer Neun“, das seit 2012 in der Kommunistischen Partei zirkuliert, identifizierte sieben Gefahren, gegen die sich China wehren müsse, darunter die parlamentarische Demokratie westlicher Art, die Vorstellung von „universellen Werten“, wie sie im Westen vertreten wird, und ein „historischer Nihilismus“, der die Geschichte Chinas und der Kommunistischen Partei anschwärze.

Auslandsstudierende als "positive patriotische Kraft"

Dieser Kampf in der „ideologischen Sphäre“ wird vor allem im Bildungssystem gefochten. 2016 forderte eine Direktive der Organisation der Kommunistischen Partei im Bildungsministerium, dass der „patriotische Geist“ besonders unter Schülern und Studenten gefördert werden müsse. Ihnen müsse „beigebracht werden, wie gefährlich eine negative Sicht auf die Geschichte der Partei und der Nation“ sei. Auch die chinesischen Studenten im Ausland müssen als „eine positive patriotische Kraft“ gesammelt werden. Besonders an den chinesischen Hochschulen nimmt der Druck zu, an vielen Universitäten wurden ideologische Inspektionen vorgenommen.

Die in Berlin lehrende Sinologin Elena Meyer-Clement arbeitet mit chinesischen Forschern zusammen. „Unter Sozialwissenschaftlern ist die Lage angespannter als früher“, stellt sie fest. Auch der akademische Austausch mit dem Ausland werde in China kritischer gesehen. „Was wir unter Xi Jinping beobachten, ist, dass Auslandsprogramme möglichst kurz konzipiert werden und dass auch die Auswahl verstärkt wird, wer mit welchen Themen ins Ausland gehen kann.“

Dass Chinesen im Ausland studieren, hat die Regierung stets gefördert, auch um den technologischen Rückstand zum Westen aufzuholen. Doch inzwischen wachsen die Sorgen darüber, was das in den Köpfen der Studenten bewirken könnte. Eine Studie chinesischer Soziologen kam letztes Jahr zu dem Schluss, dass ein Studium im Ausland tatsächlich dazu führe, dass Chinesen ihr Heimatland kritischer sehen, besonders, wenn sie auch viele westliche Medien konsumieren. Allerdings müsse man diese Ergebnisse differenziert betrachten, betonten die Autoren. Die Studenten würden den gegenwärtigen Zustand ihres Landes zwar kritischer sehen, seien aber trotzdem sehr optimistisch, was dessen Zukunft angeht. Auch werde ihr Blick auf die eigene Gesellschaft immer positiver, je länger sie sich im Westen aufhielten.

Bewusst unpolitisch, um sicher zurückkehren zu können

Das mag man noch als Rationalisierung von chinesischer Seite abtun, aber amerikanische Studien bestätigen dieses Bild. Die Purde University hat 2016 und 2018 chinesische Studenten dazu befragt, wie sich ihre Perspektive durch ihren Aufenthalt im Westen veränderte. Und tatsächlich sehen die meisten von ihnen China positiver als zuvor, und die USA negativer. Dieser Trend hat sich in den letzten zwei Jahren nur verstärkt.

Meyer-Clement meint, man könne chinesische Studierende nicht über einen Kamm scheren. Besonders in den Sozialwissenschaften „kommen viele mit einem kritischen Verständnis und sind offen für neue Einsichten.“ Doch „wenn man das nicht von sich aus möchte, dann dauert das, das ist nicht so einfach.“ Von klein auf sei vielen Chinesen „ein sehr positives Chinabild vermittelt worden, im Kindergarten, in der Schule, vielleicht noch zu Hause und durch die Medien". Eventuell sei ihnen noch beigebracht worden, dass „ausländische Mächte etwas gegen China haben und Chinas Einfluss in der Welt eindämmen wollen.“ Auch müssten Studenten an ihre Karrierechancen in China denken.

„Wenn man weiß, dass man zurück nach China geht, muss man, je nach angestrebter Position, schon sein Verhalten kontrollieren,“ sagt Meyer-Clement. „Ich hatte auch schon Studierende, die Politik aus ihren Abschlussarbeiten weggelassen haben, weil sie sagten, ich habe noch Familie in China und will dorthin zurück.“

Ming Zhang zum Beispiel promoviert in Deutschland und macht sich wenig Hoffnung auf eine akademische Karriere in seinem Heimatland. Er forscht zur zeitgenössischen chinesischen Geschichte, besonders der späten 1980er. Schon in China hatte er eine kritischere Haltung entwickelt. „Mein Mentor damals war aus dem Ausland, bei ihm habe ich wichtige westliche Autoren gelesen.“ Durch ihn habe er auch einige Dinge über die chinesische Geschichte gelernt, „die viele chinesische Studenten nicht wissen, über Tian’anmen zum Beispiel.“ Die damaligen Vorfälle sind in China bis heute ein Tabu, es darf nicht darüber geschrieben, geschweige denn dazu geforscht werden.

Junge Kommunisten, die Marx und Mao lesen

Viele chinesische Studenten in Deutschland interessierten sich wenig für gesellschaftspolitische Fragen, so Ming Zhangs Einschätzung (dessen Name wie der von Yu Yan geändert ist). Echte Dissidenz ist noch seltener. In China sind 94 Prozent der Jugendlichen optimistisch gestimmt, was die Zukunft des eigenen Landes angeht, wie eine Studie der Gates Foundation 2018 herausfand. In Deutschland waren es nur 56 Prozent. Vor allem der wirtschaftliche Aufstieg Chinas ist natürlich das beste Argument für diesen Optimismus. 1980 erwirtschaftete China zwei Prozent des globalen BIP, heute sind es mehr als 18 Prozent.

Dennoch: Die chinesischen Universitäten sind auch heute wieder ein Nährboden des politischen Aktivismus. Als im letzten Jahr zahlreiche Aktivisten verhaftet wurden, waren darunter viele Studenten, die sich mit streikenden Arbeitern solidarisiert hatten.

Ironischerweise beziehen sich viele der jungen Aktivisten aber nicht auf die Tiananmen-Bewegung, deren Niederschlagung sich in diesem Jahr zum 30. Mal jährt. Sie orientieren sich auch nicht am Westen. Es sind Kommunisten, die Marx und Mao lesen. Sie wollen auf der Seite der Arbeiterklasse für die sozialistischen Ideale kämpfen, die ihnen die Partei ihr ganzes Leben lang gepredigt hat. Damit unterlaufen sie die ideologischen Abwehrbemühungen der Regierung, die vielleicht auch deshalb mit direkter Repression reagierte.

„Sie sind sehr jung,“ sagt Ming Zhang über diese neue Generation. „Sie kamen auf die Welt, nachdem die Wirtschaft richtig abgehoben hatte.“ Seine eigene Generation der vor 1995 Geborenen sei „konservativ und zögerlich“ gewesen. „Aber diese Generation ist mutig. Sie sagen, was sie wollen. Sie haben keine Angst.“

Johannes Simon

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