China: „Wunsch nach Demokratie ist ungebrochen“
Am 4. Mai 1919 gingen die Menschen in China für Freiheit auf die Straße – zum 100. Jahrestag der Bewegung fürchtet die chinesische Führung erneute Proteste.
Es ist der 4. Mai 1919. In ganz China gehen die Menschen auf die Straße. In Peking zuerst, dann in rund hundert Städten im Land. Vor allem Studierende, aber auch Journalisten, Lehrer, Schriftsteller, Intellektuelle. Sie demonstrieren gegen Imperialismus und für chinesische Selbstbestimmung. Sie fordern Freiheit und Gleichberechtigung, Demokratie und Bildung. Es ist die erste Demonstration überhaupt in der Geschichte des Landes. „Die Menschen hielten Plakate, sie skandierten Slogans und stimmten politische Songs an“, sagt Klaus Mühlhahn. „So etwas hatte es im öffentlichen Raum Chinas nie zuvor gegeben.“
Klaus Mühlhahn, Vizepräsident der Freien Universität Berlin und Professor für Sinologie, ist Experte für die Modernisierungsgeschichte Chinas. Die Bedeutung der sogenannten Bewegung des 4. Mai sei nach wie vor ungebrochen, sagt er. „Die Demonstrationen hatten einen immensen Effekt auf die politische Entwicklung Chinas im 20. Jahrhundert, ihre Nachwirkungen sind noch heute zu spüren.“ Die chinesische Regierung sei nervös, dass es am 100. Jahrestag der Bewegung – am Sonnabend der kommenden Woche – erneut zu Protesten kommen könnte.
Ausgelöst wurde die erste Demonstration auf chinesischem Boden einst rund 8000 Kilometer von Peking entfernt, im Spiegelsaal des Schlosses Versailles. Dort, unweit von Paris, tagten im Frühjahr 1919 die Vertreter der Siegermächte des Ersten Weltkriegs. Auf der Friedenskonferenz wurde die Nachkriegsordnung nicht nur für Europa bestimmt, sondern ebenso für weite Teile der Welt, die damals in den Händen kolonialer Mächte lagen. Als es darum ging, die deutschen Kolonien aufzuteilen, meldete auch Japan Ansprüche an. Die japanische Marine hatte im Krieg entscheidend dazu beigetragen, die einstige deutsche Kolonie Kiautschou an der chinesischen Ostküste einzunehmen.
Die junge chinesische Republik war ein Flickenteppich
Nun wollten die Japaner das Gebiet, das sie seit 1914 besetzt hielten, endgültig zu ihrer Kolonie erklären. Die europäischen Alliierten stimmten schließlich zu. Statt das Gebiet an China zurückzugeben, überließ man es den neuen japanischen Kolonialherren. Es war diese Nachricht, die die Studierenden in Peking auf die Straße trieb. „Die jungen Menschen waren entrüstet, dass die europäischen Mächte die territoriale Selbstbestimmung ihres Landes missachteten“, sagt Klaus Mühlhahn. „Gleichzeitig richtete sich ihre Wut gegen die eigene Regierung, die sich als unfähig erwies, chinesische Interessen zu vertreten.“
Im Jahr 1919 stand China am Rande eines Bürgerkriegs. Bereits acht Jahre zuvor war der Kaiser zum Rücktritt gezwungen worden und China – als eines der ersten Länder im 20. Jahrhundert überhaupt – zur Republik erklärt worden. „Es hatte sich aber sehr schnell herausgestellt, dass die junge Republik nicht lebensfähig war“, sagt Klaus Mühlhahn. „Die Institutionen waren schwach, und der Staat genoss kaum Rückhalt in der Bevölkerung. Wahlrecht gab es nur für Kaufleute und Gebildete.“ De facto glich das Staatsgebiet einem Flickenteppich. Das Sagen hatten diverse Warlords, die sich ständig gegenseitig bekämpften.
Geschichtlich bedeutsam ist der 4. Mai auch deswegen, weil sich im Protest gegen die imperiale Weltordnung einerseits und den schwachen chinesischen Staat andererseits zum ersten Mal ein chinesisches Nationalbewusstsein formierte. „Der Nationalismus richtete sich damals aber nicht, wie wir es heute weltweit erleben, gegen Freiheit und Gleichberechtigung“, sagt Klaus Mühlhahn. „Im Gegenteil. Die Nation stellte das Vehikel dar, die Versprechen der Aufklärung umzusetzen.“ Die Forderung nach einem demokratischen China, die sich am 4. Mai 1919 erstmals artikulierte, sei niemals vergessen worden. Sie bleibe eingeschrieben in das politische Gedächtnis der Nation. „Dieses uneingelöste Versprechen bildet die Kehrseite des beispiellosen ökonomischen und militärischen Aufstiegs Chinas im Lauf des 20. Jahrhunderts.“
Der Jahrestag ist bis heute größte Herausforderung für das Regime
Im Mai 1989, zum 70. Jahrestag der Bewegung, gingen chinesische Studierende erneut auf die Straße. Sie begannen, sich regelmäßig am Platz des Himmlischen Friedens in Peking zu versammeln, um für Freiheit und Demokratie zu demonstrieren. Zwei Monate später wurde der Protest vom Militär gewaltsam niedergeschlagen. Mehrere Hundert Menschen starben beim Tian’anmen-Massaker am 4. Juni 1989. „Aus dem 70. Jahrestag der Bewegung erwuchs die bis heute größte Herausforderung für das kommunistische Regime“, sagt Klaus Mühlhahn. „Umso angespannter ist die Regierung angesichts der Jahreszahl 2019.“ In seinem neuen bei Harvard University Press publizierten Buch „Making China Modern – from the Great Qing to Xi Jinping“ hat der Sinologe eine Gesamtdarstellung der neueren Geschichte Chinas vorgelegt, die sich über mehr als 350 Jahre erstreckt. „Es ist ein Irrglaube anzunehmen, dass Ideen von Gleichberechtigung und Selbstbestimmung in China keinen Anklang gefunden hätten“, sagt er. „Der Wunsch ist da, und die Menschen sind nach wie vor bereit, dafür einzutreten.“
Das zunehmend verschärfte Vorgehen der Regierung von Xi Jinping deutet Klaus Mühlhahn als Nervosität angesichts des nahenden Jubiläums. „Repressionen und Zensur nehmen deutlich zu. Studierende werden eingeschüchtert, Kolleginnen und Kollegen aus der Wissenschaft sind sehr vorsichtig, was Veranstaltungen und Vorträge angeht“, sagt er. „Das hat alles mit diesem Datum zu tun.“ Daneben mache der Regierung aber auch die schlechte Wirtschaftslage zu schaffen: Der Aufstieg laufe nicht mehr wie in den vergangenen Jahren; immer mehr Menschen gerieten in die Arbeitslosigkeit. „Die Leute, die jetzt arbeitslos und unzufrieden zu Hause sitzen, sind für das Regime ein besonderes Risiko“, sagt Mühlhahn. „Die Sorge, dass es einmal mehr zu Protesten kommen könnte, ist groß.“
Dennis Yücel