Mehr als 7300 Neuinfektionen: Bundesregierung warnt vor „Beginn einer wirklich großen zweiten Welle“
Die Zahl der Neuinfektionen steigt weiter rasant, die Warnungen der Politik werden drastischer. Warum nun auch die Positivrate der Tests immer wichtiger wird.
Die Bundesregierung schätzt die Lage in der Coronavirus-Pandemie gefährlicher ein als in der bisherigen Hochphase im Frühjahr. Kanzleramtschef Helge Braun sagte am Freitag der Sendergruppe RTL/ntv, momentan steige die Zahl der Neuinfektionen „eigentlich überall“.
Und dies bedeute: „Wir tun im Augenblick nicht genug, um die Infektion unter Kontrolle zu halten.“ Die Lage sei deutlich ernster als im Frühjahr, die Dynamik sehr hoch.
„Wir hatten vor vier Tagen 4000, dann 5000, 6000, jetzt über 7000 Fälle. Das zeigt, dass wir gerade am Beginn einer wirklich großen zweiten Welle sind.“ Diese müsse unterbrochen werden. Die steigenden Zahlen hingen nicht mit der höheren Testkapazität zusammen. Man habe im Sommer schon eine ähnlich hohe Zahl an Tests gehabt, aber Infektionszahlen von unter 1000.
Fakt ist allerdings, dass die Zahl der Tests in Deutschland von Ende Juni bis heute auf rund 1,1 Millionen mehr als verdoppelt wurde. Insofern ist bei Vergleichen der Zahlen Vorsicht geboten. Immer wichtiger bei der Beurteilung der Teststatistiken wird deshalb auch die sogenannte Positivrate, die das Robert Koch-Institut (RKI) jeweils mittwochs in seinem aktuellen Lagebericht veröffentlicht.
Positivrate bei Tests steigt derzeit deutlich an
Die Zahl der Coronavirus-Tests schwankt seit Mitte August zwischen rund 1,1 Millionen und 1,2 Millionen pro Woche. In der Kalenderwoche 11 (ab 9. März) hatte es dem RKI zufolge knapp 125.000 Tests gegeben, positiv war das Ergebnis in 7,58 Prozent der Fälle. Die Rate stieg dann bis zur Kalenderwoche 14 (ab 30. März) auf 9,03 Prozent bei gut 408.000 Tests.
Danach nahmen die Zahlen stetig ab, die niedrigste Positivrate gab es dann in der Woche ab dem 6. Juli mit rund 0,59 Prozent bei 510.500 Tests. Seitdem ist die Zahl der Tests weiter kontinuierlich gestiegen.
Allerdings steigt jetzt eben auch die Positivrate: von 0,74 Prozent Ende August auf 2,48 Prozent in der Woche vom 5. bis 11. Oktober. Eine Woche zuvor lag der Wert noch bei 1,66 Prozent.
[Wenn Sie alle aktuellen Entwicklungen zur Coronavirus-Pandemie live auf Ihr Handy haben wollen, empfehlen wir Ihnen unsere App, die Sie hier für Apple- und Android-Geräte herunterladen können.]
Auch die EU misst der Positivrate der Tests inzwischen größere Bedeutung zu. Um Reisenden in Europa einen besseren Überblick über das Infektionsgeschehen und mögliche Beschränkungen zu verschaffen, haben die Europaminister der Europäischen Union gerade eine Unterteilung der EU in grüne, orange und rote Zonen beschlossen. Hinzu kommt noch die Farbe grau für Regionen, aus denen nicht genug Daten vorliegen.
Entscheidend für die Einteilung in Risikogebiete und ungefährliche Regionen sollen künftig zwei Kriterien sein: Die Rate neuer Infektionen (Inzidenz) für 100.000 Bewohner in den vergangenen 14 Tagen und die Quote der positiven Tests aus allen durchgeführten Tests.
Auch die Zahl der Covid-Intensivpatienten steigt
Am Freitag meldete das RKI mit 7334 Neuinfektionen binnen Tagesfrist einen neuen Höchstwert. Erst am Donnerstag hatte die Behörde mit 6638 Fällen ein Allzeithoch seit Ausbruch der Pandemie erfasst. In der vergangenen Woche meldete das RKI am Freitag 4516 Neuinfektionen.
Auch bei den intensivmedizinisch behandelten Covid-19-Patienten zeichnet sich ein Anstieg ab. Dem RKI-Lagebericht zufolge wurden am Donnerstag 655 Corona-Infizierte intensivmedizinisch behandelt, 329 davon wurden beatmet.
Eine Woche zuvor (8.10.) hatte der Wert noch bei 487 (239 beatmet) gelegen, in der Woche davor (1.10.) bei 362 (193 beatmet). Rund 8700 Intensivbetten sind in Deutschland derzeit jedoch noch frei. Nach Instituts-Angaben starben binnen 24 Stunden 24 Menschen an oder mit dem Virus. Deutschland verzeichnet demnach insgesamt 9.734 Todesfälle im Zusammenhang mit der Pandemie.
Wie das RKI in seinem Lagebericht schreibt, gibt es nun auch wieder vermehrt Ausbrüche in Alten- und Pflegeheimen. „Da sich wieder vermehrt ältere Menschen anstecken, nimmt die Anzahl der schweren Fälle und Todesfälle zu“, so das RKI. Im Frühjahr gab es mehrere große Corona-Ausbrüche in Altenheimen. Senioren gelten generell als anfälliger für einen schweren Verlauf von Covid-19.
76 Städte und Kreise über der kritischen Corona-Grenze
Die Reproduktionszahl, kurz R-Wert, lag nach RKI-Schätzungen in Deutschland vom Donnerstag bei 1,08 (Vortag: 1,04). Das bedeutet, dass ein Infizierter im Mittel etwa einen weiteren Menschen ansteckt. Der R-Wert bildet jeweils das Infektionsgeschehen etwa eineinhalb Wochen zuvor ab.
Zudem gibt das RKI in seinem aktuellen Lagebericht ein sogenanntes Sieben-Tage-R an. Der Wert bezieht sich auf einen längeren Zeitraum und unterliegt daher weniger tagesaktuellen Schwankungen. Nach RKI-Schätzungen lag dieser Wert bei 1,22 (Vortag: 1,16).
Nach Daten des Tagesspiegel liegen derzeit 76 Städte und Landkreise in Deutschland über dem Warnwert von 50 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner in den vergangenen sieben Tagen. An der Spitze stehen Delmenhorst mit 174, der Landkreis St. Wendel (143), der Eifelkreis Bitburg-Prüm (131.9), der Landkreis Cloppenburg (119.9) und die Grafschaft Bentheim (110.6). Berlin liegt mit 81,6 auf Platz 23.
In absoluten Zahlen wurden in den vergangenen sieben Tagen mit 2975 in der Hauptstadt am meisten Neuinfizierte registriert – gefolgt von München (829), Köln (792), Hamburg (787), Stuttgart (557) und Frankfurt am Main (512). Auch bei den aktiven Fällen liegt Berlin mit 4458 an der Spitze. Es folgen Hamburg (1777) und München (1402).
[Alle aktuellen Entwicklungen in Folge der Coronavirus-Pandemie finden Sie hier in unserem Newsblog. Über die Entwicklungen speziell in Berlin halten wir Sie an dieser Stelle auf dem Laufenden.]
Um die Ausbreitung des Coronavirus einzudämmen hatten Bund und Länder am Mittwoch beschlossen, dass es unter anderem eine erweiterte Maskenpflicht in Regionen geben soll, in denen binnen sieben Tagen mehr als 35 Neuinfektionen mit dem Coronavirus registriert werden. Bei privaten Feiern sollen in Corona-Hotspots mit einem Inzidenzwert von 35 je nach Räumlichkeit 15 bis 25 Teilnehmer erlaubt sein. Bei einem Inzidenzwert von 50 sinkt die Maximalzahl auf zehn Menschen – oder Angehörige von zwei Hausständen.
Ebenfalls bei 50 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner in sieben Tagen soll eine Sperrstunde um 23.00 Uhr für die Gastronomie verhängt werden. Bars und Clubs sollen geschlossen werden. Für Berlin kippte das Verwaltungsgericht die Sperrstunde am Freitagmorgen.
Bund und Länder schlossen noch härtere Maßnahmen nicht aus, wenn sich die Infektionslage in den kommenden zehn bis zwölf Tagen nicht bessert. Merkel hatte direkt nach dem Treffen mit den Ministerpräsidenten sehr deutlich gemacht, dass sie die Beschlüsse für nicht ausreichend hält.
[Behalten Sie den Überblick: Jeden Morgen ab 6 Uhr berichten Chefredakteur Lorenz Maroldt und sein Team im Tagesspiegel-Newsletter Checkpoint über die aktuellsten Entwicklungen rund um das Coronavirus. Jetzt kostenlos anmelden: checkpoint.tagesspiegel.de.]
Eine bundeseinheitliche Regelung über das umstrittene Beherbergungsverbot für Menschen aus innerdeutschen Risikogebieten wurde vertagt. Inzwischen ist die Regelung aber in mehreren Ländern durch die Regierungen oder Gerichtsentscheide aufgehoben.
Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) geht davon, dass das Verbot bald überall verschwindet. „Ich glaube, das wird jetzt Stück für Stück auslaufen“, sagte er am Donnerstagabend in der ZDF-Sendung „Markus Lanz“. Bayern hob die Regelung dann selbst am Freitag auf.
Noch schärfere Maßnahmen fordert bereits RKI-Chef Lothar Wieler. Er brachte eine Abriegelung von Gebieten mit hohen Coronavirus-Zahlen ins Gespräch. Vor neun Monaten habe er noch gesagt, dass er sich das nicht vorstellen könne, sagte er dem Sender „Phoenix“.
„Inzwischen kann ich mir vorstellen, dass solche Maßnahmen durchgeführt würden.“ Würden die Maßnahmen nicht verschärft, würden die Infektionszahlen möglicherweise sogar auf bis zu 10.000 täglich steigen, sagte der RKI-Chef. Er sei nach wie vor der Ansicht, dass dies verhindert werden könne.