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Blutkonserve. In Deutschland werden jeden Tag etwa 15000 Blutspenden benötigt.
© dpa

Transfusionsmedizin: Blutige Anfänge

Allein in Deutschland werden jedes Jahr 4,5 Millionen Blutkonserven benötigt. Nun tüfteln Chemiker und Zellforscher an einem sicheren, günstigen Ersatz aus dem Labor.

Immer wieder rührte Albert Hustin verschiedene Substanzen in die Blutproben auf seinem Labortisch und beobachtete sie. Vor einhundert Jahren machte der belgische Arzt dabei eine bahnbrechende Entdeckung: Versetzte er das Blut mit einer Portion Natriumzitrat, einem farblosen Salz der Zitronensäure, so blieb es flüssig, statt wie sonst nach einigen Minuten an der Luft zu verklumpen. Hustin hatte ein Rezept gefunden, das Blut daran hindert zu gerinnen. Bluttransfusionen hatte es zwar schon Jahrhunderte vorher gegeben, aber wegen des Gerinnungsproblems waren sie ein chirurgischer Kraftakt gewesen, bei dem das Blut direkt von der Arterie des Spenders in eine Vene des Empfängers geleitet wurde.

Damit die komplizierte Gerinnungskaskade beginnen kann, sind Kalziumionen nötig. Zitronensäure fängt sie jedoch ein, das Blut bleibt flüssig. Mit dem Natriumzitrat wurde es deshalb erstmals möglich, Blut für längere Zeit aufzubewahren. 1914 markiert damit auch das Geburtsjahr der Blutkonserve. Diese Fortschritte kamen kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs gerade rechtzeitig. Hinter der Frontlinie in Frankreich wurden immer mehr verwundete Soldaten mit Zitratblut-Konserven behandelt.

Heute sind Blutprodukte aus der Medizin nicht mehr wegzudenken. Allein in Deutschland werden jährlich rund 4,5 Millionen Beutel mit Konzentraten von roten Blutkörperchen, den Erythrozyten, verbraucht. Es sind vor allem Krebspatienten, die heute auf das gespendete Blut angewiesen sind. Denn eine Chemotherapie beeinträchtigt häufig auch die Fähigkeit des Körpers, neues Blut zu bilden. Auch Menschen, die durch einen Unfall oder bei einer Operation große Mengen Blut verlieren, brauchen die Transfusionen, um die Sauerstoff-Versorgung im Körper zu sichern.

Spenderblut ist knapp - und mitunter gefährlich

Doch das Lebenselixier aus dem Kunststoffbeutel ist ein knappes Gut. Weil die Menschen in Industrienationen immer älter werden, steigt auch die Zahl der Operationen und damit der Bedarf an Blutkonserven. Und in Kriegen, bei Terroranschlägen oder nach Naturkatastrophen brauchen besonders viele Patienten gleichzeitig Blutkonserven. Transfusionsmediziner träumen deshalb seit Jahrzehnten von einem künstlichen Blutersatz, der einfach zu handhaben ist und als robuste Massenware zur Verfügung steht. Biotechnologen versuchen, aus Stammzellen Blutkomponenten zu züchten. Biophysiker und Chemiker wiederum tüfteln an Molekülen, die die Sauerstoff-Versorgung des Körpers im Notfall übernehmen können.

Das moderne Blutspendesystem hat zahlreiche Leben gerettet, aber es hat Schwächen: So müssen Blutspenden sorgfältig gekühlt und nach spätestens 49 Tagen verbraucht werden. Zudem muss das Blutgruppenprofil ermittelt und mit dem Empfänger abgeglichen werden. Das birgt Gefahren: „Die irrtümliche Gabe von Erythrozyten-Konzentraten mit der falschen Blutgruppe gehört zu den häufigsten und gravierendsten Zwischenfällen“, sagt Hans Bäumler vom Institut für Transfusionsmedizin der Charité in Berlin.

Auch die große Vielfalt der Blutgruppengene stellt Mediziner vor Probleme: Patienten, die wiederholt mit Blutkonserven versorgt werden, bilden Antikörper gegen die übertragenen fremden Blutzellen. „Das macht es dann immer schwieriger, überhaupt noch passende Konserven zu finden“, sagt Bäumler. Immerhin: Dank engmaschiger Testverfahren ist das Risiko, sich bei einer Bluttransfusion mit Viren anzustecken, deutlich zurückgegangen. Das Paul-Ehrlich-Institut als zuständige Arzneimittelbehörde verzeichnete in den Jahren 2006 bis 2010 acht Virus-Infektionen durch Bluttransfusionen, sechs mit Hepatitis B und zwei mit HIV. Doch was in Deutschland Standard ist, gilt nicht für viele Entwicklungsländer. Die Weltgesundheitsorganisation zählte 2011 in einem Bericht 39 Nationen auf, in denen Virentests nicht Routine sind.

Die Liste der Anforderungen an den idealen Blutersatz ist also lang: gut verträglich soll er sein, einfach zu lagern, lange haltbar, frei von Erregern und möglichst kostengünstig. Auf der Suche nach so einem Kunstblut haben Chemiker zunächst an einer Reihe von Molekülen getüftelt, die die Rolle der roten Blutkörperchen als Sauerstoff-Transporteure ersetzen könnten. Perfluorcarbone (PFCs) sind milchige Flüssigkeiten aus langkettigen Kohlenwasserstoff-Molekülen. Sie können ausgezeichnet Sauerstoff binden und im Gewebe wieder abgeben. Filmregisseur James Cameron hat die PFCs in seinem Tiefsee-Science-Fiction-Abenteuer „The Abyss“ in Szene gesetzt. Dort ermöglichen die Substanzen den Helden, per Flüssigatmung wesentlich länger und tiefer zu tauchen. In der medizinischen Praxis konnten sich die Perfluorcarbone allerdings nicht durchsetzen – auch weil sie bei Probanden Fieber oder Lungeninfekte auslösten. Ein weiteres Manko: Patienten mit Perfluorcarbonen in den Adern müssen künstlich mit hochprozentigem Sauerstoff beatmet werden. Aufgrund der besonderen biophysikalischen Eigenschaften der Flüssigkeit reicht Luftatmung nicht aus.

Hämoglobin aus Rinderblut oder dem Wattwurm wird als Ersatz untersucht

Die meisten Blutersatzforscher orientieren sich heute an dem wichtigsten Sauerstoffträger in der Natur: Hämoglobin, jenem komplexen Eiweißmolekül mit Eisenatomen, das in den roten Blutkörperchen steckt und dem Blut seine charakteristische Farbe verleiht. Doch befreit man Hämoglobin aus der Zellhülle, die wie ein Schutzmantel wirkt, wird es heikel. „Es zerfällt rasch und ist toxisch für Niere und Herz“, erläutert Bäumler. Deswegen haben Chemiker und Biotechnologen damit begonnen, die gefährlichen Eigenschaften des Hämoglobins zu entschärfen. Zum Beispiel der Biochemiker Chris Cooper von der britischen Universität von Essex: „Wir haben das Hämoglobin gentechnisch umgebaut. Dazu haben wir dem Eiweißmolekül noch zwei zusätzliche Aminosäure-Reste hinzugefügt. Sie erleichtern es dem Körper, das Hämoglobin zu entgiften.“ Eine weitere Strategie ist, das Protein mit anderen Molekülen zu kombinieren oder es künstlich zu verkapseln, damit es nicht so leicht aus den Blutgefäßen entwischen kann. „Aber auch das hat bisher nicht zu ausreichend stabilen und sicheren Produkten geführt und die Zulassungsbehörden nicht überzeugt“, sagt Bäumler. Die Bilanz: Kein künstlicher Sauerstoffträger hat bisher eine Marktzulassung erreicht. Die einzige Ausnahme ist ein Hämoglobin-Präparat aus Rindern namens „Hemopure“. Es ist in Südafrika und Russland zwar zugelassen, kam dort in den vergangenen Jahren jedoch nur in Einzelfällen zum Einsatz, wie der Hersteller auf Anfrage mitteilt.

Ein wesentlicher Nachteil der bisherigen Blutersatzstoffe ist, dass sie in klinischen Studien bei Tieren und Menschen den Blutdruck deutlich steigen lassen. Ein Grund dafür: Hämoglobinmoleküle sind klein. Einige von ihnen schlüpfen durch Lücken in der Zellschicht, die die Blutgefäßwände auskleidet. Dort binden sie ein Molekül namens Stickstoffmonoxid, das dem Körper als Botenstoff dient und den Gefäßen signalisiert, sich zu weiten. Wird der Stoff den Gefäßen entzogen, verengen sie sich und der Blutfluss wird eingeschränkt.

Hans Bäumler und sein Team an der Charité haben deshalb einen größeren Blutersatzstoff entwickelt. Wie die Forscher im Fachjournal „American Chemical Society Nano“ beschreiben, ist es ihnen gelungen, Hämoglobin-Moleküle aus Rinderblut mithilfe chemischer Tricks zu winzigen Klümpchen zu vernetzen. Die Mikropartikel seien verblüffend einfach herzustellen und mit 700 Nanometern zu groß, um die Blutgefäßwand zu durchdringen, sagt Bäumler. Damit ihre Hämoglobin-Partikel im Blut nicht als Fremdkörper bekämpft werden, haben die Wissenschaftler es mit dem Eiweiß Albumin ummantelt. „Die Resultate aus ersten Tierexperimenten sehen äußerst vielversprechend aus“, sagt Bäumler. Mehrere Tage mit dem Sauerstoffträger behandelte Ratten bekamen keinen Bluthochdruck, das Mittel war gut verträglich, blieb stabil und entfaltete sofort nach der Transfusion seine Wirkung.

Bäumler will den Blutersatz als Sauerstofftherapeutikum weiterentwickeln. Dazu hat er das Unternehmen „CC-Ery“ mitgegründet, das mit derzeit fünf Mitarbeitern in Berlin-Buch angesiedelt ist. „Wir sind sehr optimistisch, dass es funktionieren kann“, sagt Bäumler. In zwei Jahren wollen die Forscher ihre Tierexperimente abgeschlossen haben und mit ersten klinischen Tests beginnen. Selbst wenn alles klappt, wird es also noch dauern, bis das Hightechblut aus Berlin reif für die Klinik ist.

Einen Schritt weiter ist das französische Unternehmen „Hemarina“ aus der Bretagne. Es stützt sich auf ein Riesen-Hämoglobin, das die Forscher um Franck Zal aus dem Wattwurm Arenicola marina gewonnen haben. Mittlerweile ist es gelungen, den außergewöhnlichen Sauerstoffträger biotechnisch herzustellen. Ende dieses Jahres wollen die Franzosen eine klinische Studie starten. Dann wird ihr Blutersatz erstmals am Menschen getestet.

Mindestens bis dahin wird der beste verfügbare Ersatz für verlorenes Blut wohl gespendetes Blut bleiben. Das Natriumzitrat jedenfalls, mit dem der belgische Pionier Hustin vor einhundert Jahren der Bluttransfusion zum Durchbruch verholfen hat, hat einen festen Platz im Arsenal der Humanmedizin: Bis heute steckt das Salz als gerinnungshemmende Zutat in Blutkonserven und Blutproben.

Philipp Graf

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