Streit ums Abitur: Bildungsforscher fürchten den Elternwillen
G8 oder doch wieder G9? In etlichen Bundesländern geht der Trend zurück zum Abitur nach 13 Jahren. Viele Fachleute sind alarmiert.
Viele Wege führen zum Abitur, und es werden von Schuljahr zu Schuljahr mehr. Der Streit um die verkürzte Schulzeit – Stichwort Turboabi – hat dazu geführt, dass sie in etlichen westdeutschen Ländern auch an den Gymnasien wieder um ein Jahr verlängert wird. Vielerorts laufen dazu Modellversuche an ausgewählten Schulen, doch einige Länder gehen weiter. Zuletzt hat Bayern Anfang August beschlossen, landesweit allen Gymnasien ab 2018 freizustellen, ob sie bei der achtjährigen Schulzeit (G8) bleiben, zur neunjährigen (G9) zurückkehren oder beide Wege gleichzeitig anbieten.
In Hessen können Gymnasien seit 2013/14 das G9 wieder einführen, 70 Prozent haben davon Gebrauch gemacht, 15 Prozent fahren einen Parallelbetrieb und nur 15 Prozent blieben bei G8. Niedersachsen kehrte vor einem Jahr flächendeckend zu G9 zurück. Das führt zu einem zunehmend unübersichtlichen Nebeneinander verschiedenster Systeme. Bildungsforscher sind alarmiert.
„Es ist fatal, dass der ,föderale Flickenteppich’ im Bildungssystem so noch heterogener wird“, sagt der Göttinger Bildungsforscher Tobias C. Stubbe. „Der Umzug zwischen deutschen Ländern wird weiter erschwert – und das in einer Zeit, in der europaweite Mobilität erwartet wird.“ Auch Bundesbildungsministerin Johanna Wanka (CDU) hat kürzlich in der „Welt am Sonntag“ vor einem „ständigen Hin und Her“ gewarnt, das die Qualität des Unterrichts gefährde. Dabei komme es zu Unruhe und Reibungsverlusten.
Die Kultusministerkonferenz, die die Bildungspolitik der Länder koordiniert, sieht sich nicht unter Druck, die Wege zum Abitur zu vereinheitlichen. Die Schülermobilität werde „nach den langjährigen Erfahrungen nicht erschwert“, teilte KMK-Präsidentin Claudia Bogedan (SPD), Bildungssenatorin in Bremen, auf Anfrage mit. Die KMK lasse schließlich beide Wege seit fast 25 Jahren zu, sowohl an Gymnasien als auch an Gesamtschulen beziehungsweise Schularten mit mehreren Bildungswegen. Bogedan sieht auch keine Probleme, „wenn eine einzelne Schule beide Wege anbietet“. Dann bedürfe es „ einer guten Planung, aber die Abläufe werden dadurch nicht erschwert“.
Eltern befürchten Lernstress und fehlende Zeit für Hobbys
Wie ist es überhaupt zum Abitur der zwei Geschwindigkeiten gekommen? In Ostdeutschland wurde die Hochschulreife an der Erweiterten Oberschule (EOS) nach 12 Jahren abgelegt. Nach der Wende blieb es in Sachsen und Thüringen dabei. Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt und Brandenburg verlängerten nach westdeutschem Vorbild auf 13 Jahre. In den Nullerjahren fand ein Umdenken statt, jetzt wollte man die Jugend nach internationalen Standards schneller ins Studium und ins Arbeitsleben führen. Politik und Wirtschaft waren sich einig, dass dies auch wegen des demographischen Wandels geboten sei. Bis auf wenige Ausnahmen (wie in Rheinland-Pfalz) wurde die Schulzeit bis zum Abitur am Gymnasium zunächst flächendeckend auf 12 Jahre verkürzt – gegen die anhaltenden Proteste von Elternvertretern.
Viele fürchteten, ihre Kinder könnten unter Lernstress geraten, weil die Pflichtstundenzahl von 265 Stunden bis zum Abitur beibehalten wurde. Befürchtet wurde auch, dass sie wegen des Nachmittagsunterrichts weniger Zeit für Hobbys haben würden. Das „Turboabitur“ wurde zum Wahlkampfthema – und in den Zehnerjahren ließen die ersten Länder wieder Modellversuche mit 13 Jahren Schulzeit zu, darunter Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen. Lediglich in den Stadtstaaten aber hält der „Schulfrieden“ weitgehend. In Berlin, Bremen und Hamburg bleibt es an Gymnasien beim G8. Weil Sekundar- und Gemeinschaftsschulen, Stadtteil- und Oberschulen sowie Gesamtschulen das Abitur ebenso nach 13 Jahren anbieten, haben Eltern und Schüler auch ohne G9 die Wahl. In Hamburg scheiterte 2014 ein Volksbegehren gegen G8, ebenso wie in Bayern – im Süden wird jetzt gleichwohl zurückreformiert.
Die Eltern-Sorgen gelten weitgehend als widerlegt
Bildungsforscher sind indes nicht nur wegen der Unübersichtlichkeit und der erneuten Unruhe in den Schulen besorgt. Kopfschütteln ruft vor allem die Diskrepanz zwischen dem Elternwillen und der elterlichen Beurteilung des Schulstresses hervor. Bei einer Umfrage zur Jako-o-Studie von 2014 wünschten sich zwar 79 Prozent der Eltern für ihr Kind ein neunjähriges Gymnasium. Doch lediglich neun Prozent der G8-Eltern hielten ihr Kind für überfordert. Bei den G9-Eltern waren es fünf Prozent.
Als weitgehend widerlegt gilt auch der Zeitmangel für Hobbys: Dem Bildungsmonitor von 2014 zufolge treiben 85 Prozent der G8-Schüler außerhalb der Schule Sport, gut 40 Prozent spielen ein Musikinstrument – jeweils etwas mehr als G9-Schüler. Allerdings hatten die Turbo-Abiturienten etwas weniger Zeit zur freien Verfügung, etwa zum Computerspielen oder um sich mit Freunden zu treffen. Auf die Durchschnittsnoten und Durchfallquoten von Abiturienten in den Doppeljahrgängen hatte es laut Bildungsmonitor, der Studien zu mehreren Ländern zusammenführt, nur geringfügige Auswirkungen, ob sie bis zur 12. oder 13. Klasse gelernt hatten. G8-ler schnitten durchgehend sogar etwas besser ab.
Gymnasiallehrer-Verband: Kein Zurück zum alten G9
Auch aus der Sicht von Marko Neumann, Experte für Reformen des Gymnasiums und des Abiturs am Deutschen Institut für Internationale Pädagogische Forschung (Dipf), lässt sich aus den Befunden der Bildungsforschung „keine Notwendigkeit für die Rückkehr zum G9 ableiten“. „Die treibende Kraft sind die Eltern, die machen gehörig Druck“, sagt Neumann. Das bestätigt Heinz-Peter Meidinger, Bundesvorsitzender des Deutschen Philologenverbands, der von einer „irrationalen Debatte“ spricht. „Eltern neigen dazu, alles, was bei ihren Kindern auf dem Gymnasium schiefläuft, dem G8 zuzuschreiben.“
Trotzdem bleibt Meidinger, der ein Gymnasium im bayerischen Deggendorf leitet, überzeugter Gegner der Schulzeitverkürzung. Das „alte G9“, das vor allem für gute Schüler häufig Leerlauf bedeutet habe, sei zwar überholt. Aber auf das G8 seien eben auch Defizite zurückzuführen. So hätten Kernfächer wie Deutsch gelitten, etwa weil heute in der Oberstufe große Teile der Literatur nur noch als Teillektüre vorkomme.
Bildungsforscher fordern Nachbesserungen am G8 - bislang vergebens
Meidinger plädiert „für ein Gymnasium aus einem Guss, basierend auf einem neunjährigen Lehrplan“. Verbunden werden sollte es mit einer „geförderten Überholspur“ für gute Schüler, die das Abitur weiterhin in acht Jahren ablegen wollen. Verbandsmeinung sei das aber nicht, betont Meidinger. Vor allem die Kolleginnen und Kollegen in den ostdeutschen Ländern seien weiterhin mehrheitlich vom G8 überzeugt.
Aber ist das G8 in Westdeutschland noch zu retten? Bildungsforscher fordern seit Langem, „den Fokus auf die Unterrichtsentwicklung zu legen“, statt die Reform zurückzudrehen, wie Marko Neumann vom Dipf sagt. Vor zwei Jahren forderte ein Expertenkreis um die früheren Pisa-Forscher Jürgen Baumert, Manfred Prenzel und Petra Stanat, bundesweite Nachbesserungen am G8. Die Länder sollten „Empfehlungen zur pädagogischen Arbeit im Gymnasium“ vorlegen.
Auch wenn KMK-Präsidentin Bogedan versichert, die Kultusminister hätten die Empfehlungen „sehr aufmerksam wahrgenommen und in ihren Gremien beraten“ und es finde „fortlaufend ein Informationsaustausch über die Dauer der Schulzeit“ statt: Pädagogisch passiert ist nichts. Und die Länder driften bei der Lernzeit bis zum Abitur weiter auseinander.