Streit ums Turboabitur: Schule der zwei Geschwindigkeiten
Zum Abi in acht oder in neun Jahren? Bayerns Gymnasien versuchen beides, um die Eltern zu beruhigen.
Zu viel Lernstress, zu wenig Zeit zum Erwachsenwerden: Mit der verknappten Gymnasialzeit, bekannt auch unter dem Kürzel G8, haben sich viele Schüler, Lehrer und Eltern in den alten Ländern immer noch nicht angefreundet. Viel zu überhastet sei der Lehrstoff des neunjährigen Gymnasiums in ein achtjähriges Konzept gepresst worden, sagen Kritiker. Um die erhitzten Gemüter zu besänftigen, tüftelt man in den Kultusministerien von München nach Hannover an Korrekturen und Schulversuchen – mit mehr oder weniger Konsequenz.
Als erstes Bundesland ist Niedersachsen nach den Sommerferien vollständig zum Abitur nach 13 Schuljahren zurückgekehrt. Nordrhein-Westfalen hat derweil mehrheitlich das Festhalten am "Turbo-Abi" beschlossen. In Hessen dürfen Gymnasien entscheiden, ob sie neun- oder achtjährig zum Abitur führen. In Berlin können Schüler an Gymnasien nach zwölf Jahren die Hochschulreife erlangen, an Sekundarschulen nach 13 Jahren.
Zickzackkurs zwischen Wahlterminen
G8, G9 oder irgendetwas dazwischen? Es ist beinahe unmöglich geworden, den Stand der Diskussion in allen Bundesländern zu verfolgen. Was die Verwirrung perfekt macht: Die Streitlinien verlaufen oft nicht zwischen den Parteigrenzen, sondern im Zickzackkurs zwischen Wahlterminen. „Schulpolitik ist zu einem Feld geworden, auf dem parteipolitische Kämpfe besonders heftig ausgetragen werden“, sagt Heinz-Peter Meidinger, Bundesvorsitzender des Deutschen Philologen-Verbandes. Wird das Turboabitur in einem Bundesland zum Thema, reagieren die Landespolitiker besonders schnell auf die Befindlichkeiten von Eltern und Schülern – aus Angst davor, abgewählt zu werden.
So auch in Bayern: Weder zu einer Rückkehr zum G9 konnten sich die Bayern durchringen, noch beharren sie strikt auf dem G8. Vorerst will Bildungsminister Ludwig Spaenle (CSU) mit einem Schulversuch experimentieren. An 47 Modellschulen startet im Herbst das zweijährige Pilotprojekt „Mittelstufe plus“. Dahinter verbirgt sich ein Gymnasium der zwei Geschwindigkeiten: Schüler können die Mittelstufe in drei oder in vier Jahren absolvieren – je nach Wunsch. Nach der siebten Klasse werden sie entweder in einen G8-Regelzug oder in einen Mittelstufe-plus-Zug eingeteilt. Hat der Schulversuch Erfolg, soll das Experiment in zwei Jahren auf alle Gymnasien übertragen werden.
Wird eine Zwei-Klassenschule entstehen?
Was diese Art von Wahlfreiheit für die Gymnasien bedeutet, darüber ist man sich noch uneins in Bayern. Wird die Mittelstufe plus zu einem Programm für die Sitzenbleiber, während die Überflieger ihr Abitur in acht Jahren durchboxen? Wird eine Zwei-Klassen-Gesellschaft an den Schulen entstehen?
„Nein“, sagt Susanne Arndt, Vorsitzende der Landeselternvereinigung der Gymnasien in Bayern. „Eltern wollen für ihre Kinder einfach das raussuchen, was für sie am besten ist.“ Sie hält die Wahlfreiheit für das beste Konzept. An den Pilotschulen haben sich etwa 60 Prozent der Schüler für die Mittelstufe plus und damit gegen das G8 entschieden – sehr zur Überraschung der CSU, die von deutlich niedrigeren Quoten ausgegangen war. Susanne Arndt glaubt aber dennoch nicht, dass die große Zustimmung an einer generellen Unzufriedenheit mit dem G8 in Bayern liegt. „Sonst wäre das Volksbegehren der Freien Wähler für eine Rückkehr zum G9 ja nicht gescheitert.“
30 Wochenstunden Unterricht stehen in der „Mittelstufe plus“ in den Klassen acht, neun und neun plus jeweils an. Zum Vergleich: Im klassischen G8 müssen die Kinder jeweils 34 Stunden wöchentlich lernen. Durch das eingeschobene Jahr soll so vor allem Nachmittagsunterricht vermieden werden. Das kommt insbesondere Schülern in ländlichen Regionen entgegen, wo nachmittags kaum mehr Schulbusse in ihre Heimatdörfer verkehren.
Eltern mussten begründen, warum ihr Kind in die Mittelstufe plus soll
Am Neuen Gymnasium in Nürnberg haben sich knapp 25 Prozent der Schüler für die Mittelstufe plus angemeldet. „Ich habe weder die Werbetrommel gerührt noch den Schulversuch abgewertet“, sagt Karl-Heinz Bruckner, der die Schule leitet. Es sei immer im Einzelfall entschieden worden, im Austausch mit Schülern und Eltern: Was ist für den jeweiligen Schüler die beste Option? In einem Schreiben mussten die Eltern begründen, warum sie ihr Kind für die Mittelstufe plus anmelden wollen.
Die Befürchtung mancher, dass nur leistungsschwache Schüler die Mittelstufe plus wählen würden, hat sich jedenfalls nicht bestätigt. „Die Schüler sind sehr durchmischt“, sagt Bruckner, der zugleich Landesvorsitzender der Direktoren der Gymnasien Bayerns ist. In den Klassen säßen Schüler, die ein wenig in der Entwicklung hinterherhinken, aber auch leistungsstarke Schüler und Sportler, die in ihrer Freizeit zeitintensive Hobbys betreiben. Direktor Bruckner stellt klar: „Die Mittelstufe plus ist nichts für Schüler mit einem problematischen Arbeitsverhalten.“ Schließlich müssten die Schüler, die keinen Nachmittagsunterricht mehr haben, selbstständig Stoff nach- und vorbereiten.
G8-Schüler leiden häufiger unter Stress
Wissenschaftler versuchen derweil empirisch zu ergründen, welcher Weg zum Abitur nun tatsächlich besser ist – das Turboabitur oder doch die entschleunigte Langversion. Am Tübinger Hector-Institut für Empirische Bildungsforschung haben Forscher die Auswirkungen der G8-Reform in Baden-Württemberg untersucht. Ihr Ergebnis: Es gibt kaum Leistungsunterschiede zwischen G8- und G9-Jahrgängen – zumindest in Mathematik, Biologie und Physik. Nur in Englisch liegen die G9-Absolventen deutlich vor den Turboabiturienten. Und: G8-Schüler berichten häufiger über Stress und Unwohlsein.
Was für Baden-Württemberg gilt, ist kaum auf ganz Deutschland übertragbar, zu unterschiedlich sind die einzelnen Bildungssysteme. Max Schmidt, Vorsitzender des Bayerischen Philologenverbandes, ist aber überzeugt: „Der längere Weg entspricht mehr dem Erwachsenwerden. Man braucht eben ein gewisses Alter, um Romeo und Julia zu verstehen.“ Schmidt und sein Verband unterstützen deshalb den Schulversuch Mittelstufe plus. Nur mit den Rahmenbedingungen ist er noch nicht ganz zufrieden. Zwar bekommen nach den Plänen des Kultusministeriums alle Gymnasien, die am Schulversuch teilnehmen, vier Anrechnungsstunden pro Woche für den zusätzlichen Organisationsaufwand.
"Längst nicht alles ist in trockenen Tüchern"
„Wir werden teilweise aber mehr Ressourcen, mehr Personal, aber auch mehr Freiheiten brauchen, um den Lehrplan zu gestalten. Längst nicht alles ist in trockenen Tüchern“, sagt Schmidt.
Im Nachteil sieht er ohnehin kleine Schulen. Wegen der geringen Schülerzahlen bleibe im G8-Zug oft nur eine kleine Restgruppe – oder umgekehrt. Auch Schulen, die mehrere Zweige anbieten, stoßen mit der Jahrgangsstufe neun plus an ihre Grenzen. In musischen und sprachlichen Gymnasien, an Schulen mit naturwissenschaftlichem und Sport-Schwerpunkt ist es schwierig, jeden Zweig auch als neunjährige Variante zu garantieren. „Uns war es wichtig, alle Sprachenfolgen auch im Schulversuch unterzubringen“, sagt Direktor Bruckner vom Neuen Gymnasium in Nürnberg, das einen Sprachen-Schwerpunkt hat. Das habe geklappt.
Der Bundesvorsitzende des Gymnasiallehrerverbandes, Heinz-Peter Meidinger, glaubt, dass die Wahlfreiheit die Diskussion in Bayern entspannen wird. „Die Debatte wird weniger aggressiv, wenn die Eltern nicht mehr das Gefühl haben, in ein bestimmtes System gepresst zu werden.“ An die Beständigkeit des Gymnasiums der zwei Geschwindigkeiten glaubt er trotzdem nicht. An ein und derselben Schule gleichzeitig G8 und G9 zu organisieren, hält Meidinger nur in einer Übergangsphase für realisierbar. Langfristig werde sich auch Bayern entscheiden müssen, wohin die Bildungsreise geht.
Der bundesweite Trend ist für ihn klar ersichtlich: „Die große Mehrheit ist für G9“, sagt Meidinger. Aber in den ostdeutschen Ländern, wo das G8-System schon eingespielt ist, gebe es weniger Sehnsucht nach Entschleunigung.
So schnell werde sich im bildungspolitischen Flickenteppich der Bundesrepublik jedenfalls kein einheitliches System herausbilden, sagt Meidinger. Das Resultat: Die Mobilität der Schüler wird eingeschränkt, ein Wechsel von einem G8-Bundesland in ein G9-Bundesland wird erschwert. „Die Schüler sind als Versuchskaninchen die Leidtragenden der Bildungspolitik der Länder.“