200 Jahre vor Luther: Bibelübersetzung? Ein Österreicher war der Erste
Luthers Bibel war nicht die erste Übersetzung der Heiligen Schrift: Berliner Forscher edieren jetzt eine aus Österreich stammende frühe Bibelübersetzung.
Martin Luther sprudelten die Formulierungen, Metaphern und Vergleiche aus der Feder wie Gebirgsbäche nach der Schneeschmelze. Als er 1522 unfreiwillig auf der Wartburg festsaß, übertrug er in nur elf Wochen das Neue Testament aus dem Griechischen und Hebräischen ins Deutsche.
Bei der Bibelübersetzung fing Luther aber nicht bei null an. Seitdem sich im achten Jahrhundert aus Dialekten die deutsche Sprache formte, haben Gelehrte Teile der Heiligen Schrift eingedeutscht. Mal einige Psalmen, mal das Buch Hiob oder ein Evangelium. Im 13. und 14. Jahrhundert wollten immer mehr einfache Menschen wissen: Was steht da eigentlich drin in der Bibel? Sie wollten sich nicht mehr abspeisen lassen mit Auszügen und Zitaten, die ihnen die Pfarrer vorgaben, sondern selbst lesen. Immer größere Teile der Heiligen Schrift wurden übersetzt.
Er outet sich als "ungeweihten, zum Predigen nicht ordinierten Laien"
Um 1330 saß irgendwo im heutigen Österreich ein besonders ehrgeiziger und hartnäckiger Mann in seiner Stube. Er las, forschte und schrieb so lange, bis er die gesamte Bibel eingedeutscht und kommentiert hatte. 200 Jahre vor Luther. Doch während jedes Kind von Luther und seiner Bibelübertragung hört, kennen nur Theologen, Altgermanisten und eine Handvoll Historiker seinen österreichischen Vorgänger.
„Wir wissen nicht, wie er hieß, auch nicht, wie er aussah“, sagt Martin Schubert. Und dass er in Österreich lebte, ist auch nur eine Vermutung, weil man die wichtigste Handschrift seiner Übersetzung in einem österreichischen Kloster gefunden hat. Der anonyme Autor beschreibt sich selbst als einen „ungeweihten, zum Predigen nicht ordinierten, nicht an einer hohen Schule ausgebildeten Laien“.
Vielleicht ein Lehrer? Vielleicht ein Adeliger? Eine Frau? Sicher ist: Es handelt sich nicht um ein Auftragswerk, sonst wäre der Auftraggeber erwähnt worden. Aber irgendjemand muss den Mann für seine aufwendige Arbeit freigestellt und finanziert haben. Kühe melken, Ländereien verwalten und nebenbei die Bibel übersetzen? Unwahrscheinlich. Klar ist auch: Er muss ein Bücherwurm gewesen sein, er hatte Zugang zu Bibliotheken und kannte die neuesten Schriften. Ein bisschen muss der anonyme Österreicher aus dem 14. Jahrhundert ein Seelenverwandter von Martin Schubert gewesen sein.
Zwölf Jahre lang wird das Werk des unbekannten Übersetzers ediert
Schubert, 52, klein, schmal, Brille, beugt sich in seinem Büro in der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften über einen Ordner, der randvoll ist mit Kopien einer mittelalterlichen Handschrift. Es ist eine Abschrift jener ersten österreichischen Bibelübersetzung. Schubert ist Altgermanist und beschäftigt sich seit vier Jahren mit dem anonymen Autor. Jetzt hat er ein Projekt an Land gezogen, das jeden Wissenschaftler glücklich macht: Zwölf Jahre lang darf er zusammen mit drei Kollegen das Werk des Österreichers edieren, in Buchform und digital. Dass das erst jetzt geschieht, liegt daran, dass Forscher erst in den 1930er Jahren den unbekannten Übersetzer als Autor verschiedener Texte identifizierten. Sein Gesamtwerk wurde erst in jüngster Zeit erschlossen.
Doch warum sitzt Martin Schubert am Berliner Gendarmenmarkt und nicht in Wien oder Linz? Weil schon die Preußische Akademie der Wissenschaften mit der Edition von Texten und Quellen aus Antike, Mittelalter und Neuzeit zu Ruhm gelangte. Und weil die geisteswissenschaftliche Grundlagenforschung auch heute der Schwerpunkt der Berlin-Brandenburgischen Akademie ist.
Mit vielen volkskirchlichen Legenden angereichert
Es gehe darum, „das kulturelle Erbe der Menschheit zu sichern, zu erschließen und für die folgenden Generationen zu bewahren“, heißt es in der Selbstbeschreibung. Schuberts Kollegen erarbeiten große Wörterbücher und beschäftigen sich mit Aristoteles-Kommentaren, mit der chinesischen Seidenstraße und mit Quellen zur mittelalterlichen Frömmigkeit. Das Projekt von Schuberts Team finanziert die Akademie mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft, insgesamt stehen 4,5 Millionen Euro zur Verfügung.
Er findet es schicklich, das Jesus seiner Mutter, Maria, zuerst erscheint
Martin Schubert ist angetan von der „sprachlichen Brillanz“ seines Forschungsgegenstands. Der Übersetzer aus dem 14. Jahrhundert habe ein Gespür für Poesie gehabt. Das Besondere seines Bibeltextes ist aber, dass er ihn mit vielen volkskirchlichen Legenden angereichert hat. Schubert schiebt eine Kopie über den Tisch, in der davon die Rede ist, „dass unser herre Ihesus Cristus seinr muter, der rainen magd Marien des ersten erschienen sey“. Im Johannesevangelium erscheint der auferstandene Jesus aber nicht zuerst seiner Mutter, sondern Maria Magdalena. Das aber fand der österreichische Bibelübersetzer nicht schicklich. Er gibt freimütig zu, dass er da etwas einfügt, und leitet seinen Zusatz mit den Worten ein: „Wie aber die heyligen evangelisten nicht schreybent.“
Es entspreche der Würde Marias, der Muttergottes, dass Jesus sie als Erste besucht, wenn er auf die Erde zurückkehrt, argumentiert der Übersetzer und beruft sich auf den Heiligen Germanus, der das auch so gesehen habe. Dass dieser Germanus die Sache richtig darstellt, daran besteht für den anonymen Österreicher kein Zweifel. Seiner Meinung nach zeuge es von „moralischer Verdorbenheit“, wenn man ausschließlich die Evangelien als Quellen zulasse und die Schriften von Kirchenlehrern und Heiligen ignoriere. Einen Text zu übersetzen heißt eben auch immer, ihn zu interpretieren.
Nichts deutet darauf hin, dass Luther die frühe Übersetzung kannte
Unter den Zeitgenossen war seine Arbeit offenbar umstritten. Warum sonst hätte er seine Tätigkeit in Traktaten so vehement verteidigt?, fragt Schubert. Er wandte sich gegen Ketzer und gegen die orthodoxen Geistlichen, die von einer Eindeutschung der Bibel nicht viel hielten.
Ob Luther diese Bibelübersetzung kannte? „Bis jetzt deutet nichts darauf hin“, sagt Schubert, Luther habe nicht auf ihn verwiesen, auch nicht von ihm abgeschrieben. Vermutlich hätte er eh nur Hohn und Spott dafür übrig gehabt. Die Evangelien mit volkstümlichen Legenden anzureichern, war für Luther eine Sünde. Sein Leitmotiv hieß „Sola scriptura!“ – „allen durch die Schrift“, und das waren in seinem Verständnis griechische und hebräische Originalquellen. Heiligenlegenden und Volksglauben hatten in seiner Theologie nichts zu suchen. Da war Luther ganz Fundamentalist.
Eine Mammutaufgabe, die ursprüngliche Übersetzung zu rekonstruieren
Aber auch sein Vorgänger aus dem 14. Jahrhundert fand viele Freunde. Seine Texte wurden benutzt und machten die Runde. Allein von seiner Übersetzung des Neuen Testaments gibt es 60 Abschriften. Schubert und seine Kollegen müssen aus diesen vielen Handschriften die eine möglichst originale „Leithandschrift“ herausfiltern. Eine Mammutaufgabe. Denn vieles ist nur in Teilen überliefert, und auch diejenigen, die eine Abschrift anfertigten, kopierten nicht einfach nur Wort für Wort, sondern veränderten Kleinigkeiten in ihrem Sinn, ließen weg, fügten hinzu.
Der Übersetzer war - wie später Luther - ein Antisemit
Der österreichische Übersetzer hatte auch seine dunkle Seite. „Er war ein Antisemit“, sagt Martin Schubert. Sie hätten den Herrgott erschlagen, warf er ihnen vor und zog in wüster Sprache über sie her. Da hätte Luther zugestimmt. Auch er hetzte übel gegen die Juden. Auch das werden die Editoren ausführlich kommentieren.
Wenn in zwölf Jahren zum ersten Mal eine Gesamtausgabe dieser ersten Bibelübersetzung vorliegt, wird das Luthers Leistung keinen Abbruch tun. So wortgewaltig war keiner seiner Vorgänger. Keiner hat dem „Volk aufs Maul geschaut“, wie er es tat. Und Luther bleibt der Erste, der die Bibel aus ihrer Originalsprache übersetzt hat, aus den griechischen und den hebräischen Quellen.
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