Gottfried Wilhelm Leibniz - auf dem Weg ins Gedenkjahr 2016: Der letzte Universalgelehrte
Leibniz war wohl der letzte Universalgelehrte - und er strebte nach der besten aller Welten. Jetzt wird er neu entdeckt, in Berlin widmet die Akademie der Wissenschaften ihrem Gründer anlässlich seines 300. Todestags im kommenden Jahr erste Veranstaltungen.
Wer heute behauptete, er sei in jeder gängigen Wissenschaft gleichermaßen gut bewandert, würde wohl zu Recht als größenwahnsinnig verspottet. Zu vielfältig, zu unüberschaubar sind die Wissensfelder der Spätmoderne, die im Akkord auf unzähligen Ebenen unzählige neue Erkenntnisse gebiert. Die Gelehrtenform unserer Zeit ist der Experte einer aufs Ganze gerechnet verschwindend kleinen Wissensprovinz. Im ausgehenden 17. Jahrhundert hingegen war es – wenn auch unter großer geistiger und körperlicher Anstrengung – noch eben möglich, die Wissenschaft als Einheit zu begreifen; Philosophie, Mathematik, Physik und Geschichte mit gleichem Ehrgeiz zu verfolgen, ohne dabei in jeder Disziplin notwendig Dilettant zu bleiben.
Im kommenden Jahr jährt sich zum 300. Mal der Todestag desjenigen Intellektuellen, den die Wissenschaftsgeschichte mitunter als letzten Universalgelehrten des Abendlandes bezeichnet. Gottfried Wilhelm Leibniz beackerte nahezu sämtliche Wissensfelder seiner Zeit, geleitet von dem Bestreben, das Ganze zu durchdringen, dabei immer bemüht, die Theorie für die gesellschaftliche Praxis nutzbar zu machen.
Aus dem hochbegabten Kind wird ein grenzenloser Optimist
Sein berühmtes Credo „Theoria cum praxi“ meint denn auch eine wechselseitige Bezogenheit von Theorie und Praxis und nicht bloß ein gleichberechtigtes Nebenher, wie es der Kunsthistoriker Horst Bredekamp unlängst auf einer Tagung der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften (BBAW) formulierte, deren Gegenstand Leibniz’ Wissenschaftskonzeption „zwischen Neugierde und Nutzen“ war. Nicht von ungefähr heißt das Jahresthema 2015/16 der BBAW, die sich auf Leibniz als Gründungsvater beruft, „Leibniz: Vision als Aufgabe“. Am 25. Juni lädt die Akademie zum zweiten Teil ihrer transdisziplinären Leibniztagung ein, weitere Termine folgen (http://jahresthema.bbaw.de).
Gottfried Wilhelm Leibniz wurde 1646, zwei Jahre vor Ende des 30-jährigen Krieges, in eine Welt hineingeboren, die alles andere als perfekt war, von Seuchen und einem der schrecklichsten Kriege verheert, die die Geschichtsschreibung bis dato verzeichnet. Und doch wurde aus dem hochbegabten Kind – schon als Achtjähriger las Leibniz autodidaktisch die lateinischen Werke der väterlichen Bibliothek – ein schier grenzenloser Optimist.
Das Bedürfnis nach Harmonie und Einheit, das sein Werk durchdringt, kann man auch vor dem Hintergrund der Wirren seiner Zeit, vor allem der tiefen Zerrissenheit der christlichen Konfessionen lesen. Wohl gerade weil das Böse für ihn allgegenwärtig schien, war Leibniz an dessen unbedingter Erklärung gelegen. So dachte er eine quasi dialektische Beziehung zwischen dem Guten und dem Bösen und nahm Letzteres als für die freie Entscheidung notwendiges Übel an.
"Die beste aller möglichen Welten" hat das Morgen im Blick
Seine Antwort auf die sogenannte Theodizee-Frage – warum der durch einen guten Gott gewirkten Welt offensichtlich grausame Züge eignen –, war fürs Missverständnis prädestiniert und gab nicht bloß Voltaire Anlass zum Spott. Bis heute wird der Satz von der „besten aller möglichen Welten“ häufig als Zustandsbeschreibung fehlinterpretiert, wie unter anderem der Philosoph Reinhard Finster und der Historiker Gerd van den Heuvel in ihrer Leibnizmonografie erläutern. Tatsache aber sei, dass Leibniz nicht das Heute, sondern das Morgen im Blick hatte. Die Welt ist also nicht deshalb vollkommen, weil sie es ist, sondern weil sie es werden kann. Nach vorne denken, die Welt verbessern, das war Leibniz’ unbedingter Anspruch.
Weil er Theorie und Praxis letztlich als Einheit sah, korrespondiert dem Gedanken einer geistigen perfectibilitas auch eine „intellektualistische Ethik“, schreiben Finster und Van den Heuvel. Im Anschluss an Sokrates glaubte Leibniz, dass der Mensch Böses nur aus einem Mangel an Erkenntnis tut. Im Umkehrschluss bedeutet das: Ist das Wissen erst einmal total, werden sich die Menschen auch moralisch veredeln. Leibniz war ein Rationalist, der glaubte, die Welt durch intellektuelle Durchdringung zum Guten zu führen.
"Durchaus ein Vertreter der Frühaufklärung"
Sein Glaube an die Verbindung von Logik und Ontologie, von Erkenntnistheorie und Metaphysik ging sogar so weit, dass er den Mächtigen vorschlug, mathematische Formeln zur Heidenbekehrung einzusetzen. Gott, davon war Leibniz überzeugt, muss sich ausrechnen lassen. Und auch die Welt ließe sich bis ins Letzte berechnen, wenn man über die intellektuelle und rechnerische Kompetenz des Allerhöchsten verfügte. Der Gedanke einer berechneten Schöpfung, die in seiner Monadenlehre Ausdruck findet, musste Leibniz in einen Determinismus führen, der sowohl seinem theoretischen Freiheitskonzept als auch seiner biografischen Umtriebigkeit und Korrespondenzwut aufs Schärfste entgegensteht.
Gegen seinen Mathematik- und Logikfetischismus konnte nicht einmal sein starker Glaube etwas ausrichten. Sogar Gott hat sich nach Leibniz an „absolute Wahrheiten“ zu halten und konnte die Welt letztlich nicht anders schaffen, als er es getan hat. „Man kann Leibniz durchaus als einen Vertreter der Frühaufklärung bezeichnen“, sagt der Wissenschaftshistoriker und Leibnizexperte Eberhard Knobloch von der TU Berlin. „Die Betonung der Vernunft, der Versuch einer systematischen Wissenserweiterung, der Anspruch, das Wissen zu demokratisieren und auch die Leute niederer gesellschaftlicher Schichten an Bildung zu beteiligen – all das sind aufklärerische Gedanken, die für Leibniz’ Zeit untypisch waren.“
Ein erstes Konzept zu einer allgemeinen Krankenversicherung
Zwar ging es ihm nicht unbedingt um gesellschaftliche Emanzipation, auch war er felsenfest in der hierarchischen Ständegesellschaft verhaftet. „Trotzdem war ihm immer an einer Verbesserung der konkreten Lebensverhältnisse der Menschen gelegen“, sagt Knobloch. So riet Leibniz den Herrschenden zu karitativen Konzepten wie einer allgemeinen Krankenversicherung und war damit Vordenker einer sozialen Bevölkerungspolitik.
Sein Bedürfnis nach Einheit und Harmonie führte ihn also auch auf die politische Bühne. Leibniz, der als Bürgerlicher Zeit seines Lebens im Dienste des Hauses Hannover stand, vermittelte mehrfach zwischen Hannover und Preußen. Für die Hannoveraner schrieb er die Geschichte der Welfen, die aus Knoblochs Sicht jeder Quellenkritik standhält, obgleich sie vornehmlich dazu gedacht gewesen sei, Machtansprüche zu legitimieren. In Preußen bewirkte er die 1700 erfolgte Gründung der Königlich-Preußischen Akademie der Wissenschaften, auf welche sich die heutige BBAW zurückführt und deren erster Präsident er wurde.
Mit Leibniz’ Umtriebigkeit hätte man mehrere Leben ausfüllen können. Überall trug er seine Ideen vor: zur Verbesserung des Staatswesens, zu Landwirtschaft und Bergbau, zu Strategie und Politik. Hannover, Preußen, Wien, Russland, stetig bot er seine Dienste an. Und vielerorts gibt es noch heute Akademien, die sich auf Leibniz als ihren Gründungsvater berufen.
Computerpioniere konnten an seine Ideen anknüpfen
Dass sich diverse Ideen seinerzeit nicht umsetzen ließen, weil die jeweiligen Fürsten nicht bereit waren, ihn zu finanzieren, beeindruckte den grenzenlosen Optimisten wenig. So bemühte er sich nicht bloß darum, das Schisma der Kirche zu überwinden, sondern auch Ludwig XIV. von seinen Kriegsvorhaben in Europa abzuhalten. Beides ist ihm, wie man weiß, nicht gelungen. Genauso wenig wie die Realisierung theoretischer Konzepte, zum Beispiel einer Universalsprache, oder technischer Methoden, die häufig auch an den Umsetzungsmöglichkeiten seiner Zeit scheiterten.
Vor allem aber seine Entdeckungen in der Mathematik – die Infinitesimalrechnung und das duale Zahlensystem – wirkten massiv in die spätere Zeit hinein und sind bis heute von Bedeutung. Mit seiner Vierspeziesrechenmaschine und dem dualen System ist Leibniz nicht zuletzt der Ahnherr der modernen Computertechnik. „Leibniz hat das maschinenmäßige Rechnen nicht erfunden“, sagt Knobloch, „und seine Rechenmaschine arbeitete auch noch nicht mit dem binären Zahlensystem wie später die ersten Computer, sondern mit dem dekadischen. Gleichwohl konnten Computerpioniere in späterer Zeit an seine Ideen anknüpfen.“
Was also bleibt von Leibniz’ Schöpfungen? „Das Sprossenrad und die Staffelwalze als Antrieb für mechanische Rechenmaschinen sind genuin Leibniz’sche Erfindungen, die sich bewährt haben“, sagt Knobloch. In der Mathematik und der Physik könne man seine Bedeutung gar nicht genug herausstellen, zumal der größte Teil des Werkes nach wie vor der Veröffentlichung harre.
Tatsächlich ist das Leibniz’sche Oeuvre – der größte bekannte Gelehrtennachlass überhaupt – nur zu einem Bruchteil ediert. Unermüdlich war Leibniz mit Denken und Arbeiten beschäftigt. Nie hielt es ihn allzu lange an einem Ort, überall versuchte er sich theoretisch und praktisch nützlich zu machen. Sein biografischer und politischer Spagat bewirkte indes nicht immer die ersehnte Harmonie. Beim Hause Hannover fiel er in Ungnade. Als Leibniz am 14. November 1716 im Alter von 70 Jahren beerdigt wurde, war von der Hofgesellschaft niemand zugegen.