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Die Bibliothek der Humboldt-Universität.
© picture alliance / Jens Kalaene/

Debatte um das Berliner Hochschulgesetz: Bei Hanna geht es um die Zukunft der Wissenschaft

Prekäre Bedingungen in der Wissenschaft sollte die Politik nicht hinnehmen. Berlin will das ändern - und könnte an Attraktivität gewinnen. Ein Gastbeitrag.

Anette Simonis (Charité) ist Vorstandsmitglied der Landesvertretung Akademischer Mittelbau (LAMB), Tobias Schulze ist wissenschaftspolitischer Sprecher der Linksfraktion im Berliner Abgeordnetenhaus.

Der Rücktritt von HU-Präsidentin Sabine Kunst hat ein Erdbeben in der Wissenschaftscommunity ausgelöst – anders als die jahrzehntelange Fehlentwicklung bei den Beschäftigungs- und damit Arbeitsbedingungen für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler.

Die Bewegung #IchbinHanna war nicht der erste, sondern der jüngste Aufschrei in einer langen Reihe von Debatten um die Reform der Personalstrukturen an unseren Hochschulen und Forschungseinrichtungen.

Die Debatte geht seit Jahrzehnten

In seinem berühmten Essay „Wissenschaft als Beruf“ machte Max Weber bereits 1919 auf die Unterschiede zwischen den verschiedenen Modellen aufmerksam. Während man in den USA als „Assistant“ angestellt in die Laufbahn einsteige, mache sich „der junge Gelehrte“ hierzulande auf einen höchst unsicheren Weg: „Er muß es mindestens eine Anzahl Jahre aushalten können, ohne irgendwie zu wissen, ob er nachher die Chancen hat, einzurücken in eine Stellung, die für den Unterhalt ausreicht.“

Einhundert Jahre später, nach Reformuniversität, Bildungsexpansion und zuletzt der Exzellenz-Ära finden wir eine Personalstruktur vor, deren Ein- und Aufstiegshürden denen aus Max Webers Zeiten erschreckend ähneln. Nicht die Gebühren der Studierenden formen heute die Strukturen, sondern die Ausrichtung der Universitäten auf eine wettbewerbliche Finanzierung.

Reproduktion von Abhängigkeitsverhältnissen

Obwohl der kollektive Charakter wissenschaftlicher Arbeit weithin anerkannt und das Lehrstuhlprinzip auch in Berlin formal abgeschafft ist, reproduzieren sich unter diesen Bedingungen die Abhängigkeitsverhältnisse aus früheren Zeiten.

Im Schnitt stehen 80 Prozent angestellte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler knapp 20 Prozent beamteten Professorinnen und Professoren gegenüber. Im Angestelltenbereich sind etwa 90 Prozent der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler befristet beschäftigt. Die Exzellenzinitiative sowie der Boom von Förderprogrammen hat diese Entwicklung massiv befördert: während seit 2006 die Zahl befristeter Arbeitsverhältnisse um 58 Prozent gewachsen ist, nahm die Zahl unbefristeter Wissenschaftler:innen nur um sechs Prozent zu.

Der höchst qualifizierte Bereich des öffentlichen Sektors ist zugleich der prekärste. Ein Heer von kreativen, aber prekär beschäftigten Köpfen leistet den Großteil der Lehre, setzt die eingeworbenen Forschungsprojekte um und qualifiziert sich – oft in der Freizeit, denn das ist häufig aufgrund der  Förderbedingungen und Arbeitsverträge vorgegeben. Der „Nachwuchs“  ist  „Ausstattung“ von Professuren bei Berufungen und Verschiebemasse in den Hochschulhaushalten.

Das Überleben ist oft keine Frage der wissenschaftlichen Qualität

Ob es immer die Besten sind, die diese Selbstausbeutung bis Anfang oder Mitte 40 durchstehen, sei dahin gestellt. Das Überleben ist oft keine Frage der wissenschaftlichen Qualität, sondern ihres finanziellen Backgrounds und ihrer Fähigkeiten, sich in den wissenschaftlichen Karrierenetzwerken durchzusetzen. Und es sind viel zu oft Frauen, die durch das Raster fallen.

Die  Uni-Kanzler:innen Deutschlands haben 2019 in der Bayreuther Erklärung in dankenswerter Offenheit klargestellt, dass sie diese Verhältnisse für alternativlos und geradezu konstitutiv für ein modernes Hochschulsystem halten. Ein Blick ins nahe und ferne Ausland reicht, um diese These zu widerlegen.

Dahin verabschieden sich denn auch viele, während umgekehrt unser Wissenschaftssystem unterhalb der Professur kaum Konkurrenzfähiges anzubieten hat.  Andere, die keine Professur erhalten, werden Jahrzehnte über Drittmittelverträge als wichtige Projektmitarbeiter:innen befristet in Forschung und auch in der Lehre gehalten.

Es geht nicht allein um soziale Gerechtigkeit

Die Frage, ob die Politik diese Entwicklungen weiter hinnehmen kann, ist nicht allein eine Frage der sozialen Gerechtigkeit. Es geht hier auch um die Frage, ob wir uns als Gesellschaft diesen Verschleiß an Wissen, Kreativität und Innovation weiter leisten können und wollen. Aber auch ob die Universitäten angesichts des demographischen Wandels und der hohen Kosten diesen Verlust an Organisationswissen in Kauf nehmen können.

Das novellierte Berliner Hochschulgesetz sieht vor, dass bei einer weiteren Qualifizierungsbefristung nach der Promotion, ein Zugang zu einer unbefristeten Stelle im Rahmen eines qualitätsgesicherten Verfahrens angeboten werden muss.

Diese Stelle gibt es nicht als Automatismus, sondern über einen Tenure Track, der das Erbringen vorher festgelegter wissenschaftlicher Leistungen erfordert. Das stellt die Universitäten vor die schwierige, aber nicht unlösbare Aufgabe, mit Menschen, die sich im Wissenschaftssystem bewährt haben, sorgsam umzugehen und ihre wissenschaftliche Laufbahn sorgfältiger zu planen.

Berlin gewinnt an Attraktivität

Anstatt Umgehungstatbestände zu suchen oder gar Einstellungsstops zu verhängen, wäre eine satzungsmäßige Ausgestaltung der Tenure-Option ebenso eine lohnende Aufgabe wie das Entwickeln einer vorausschauenden Personalplanung.

Wo Unterstützung der Politik für die Umsetzung notwendig ist, ist diese zugesagt. Auch eine Präzisierung des Gesetzes, wo es unklar formuliert ist, wird nicht ausgeschlossen. Aber wir sind überzeugt, dass Berlin als Wissenschaftsstadt mit diesen verbindlicheren Laufbahnstrukturen massiv an Attraktivität für kluge Köpfe gewinnt. Packen wir es an. 

Anette Simonis, Tobias Schulze

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