Professorin zu #IchBinHanna: „Alle sind ausgebrannt und deprimiert“
Die US-Professorin Wendy Shaw unterrichtete sieben Jahre an der FU Berlin. Ein Gespräch über zermürbende Arbeitsbedingungen, falsche Anreize und überforderte Studenten.
Frau Shaw, über 80 000 Tweets zählt #IchBinHanna seit Beginn der Kampagne im Juni. So eine Wucht hatte die Diskussion um die prekären Arbeitsbedingungen an deutschen Universitäten lange nicht mehr. Stimmt Sie das hoffnungsfroh?
Ich bewundere die Initiator*innen und bin wirklich froh darüber, dass sie diese Bewegung angestoßen haben. Über diese Probleme öffentlich zu sprechen, erfordert viel Mut – besonders für junge Menschen. Wir beobachten in Deutschland gerade einen Zusammenbruch der Institutionen, die für Intellektuelle gedacht sind. Das geht uns alle an.
Im Fokus der Kritik steht das 2007 erlassene Wissenschaftszeitvertragsgesetz. Es regelt, dass wissenschaftliche Mitarbeiter in Deutschland befristet angestellt werden – für im Schnitt zwei Jahre am Stück, maximal 15 Jahre. Ohne Professur droht dann Arbeitsverbot an Universitäten.
Schon vor dem Gesetz gab es in Deutschland eine lange Geschichte der Ausbeutung an Universitäten, beispielsweise im Fall von Privatdozent*innen, die umsonst arbeiteten – und das bis heute tun. Das Wissenschaftszeitvertragsgesetz fiel somit auf fruchtbaren Boden. Wir erleben seit Langem, dass es ein komplettes Desaster ist. Heute sind 92 Prozent der wissenschaftlichen Mitarbeiter*innen in Deutschland befristet eingestellt. Das ist eine verrückte Zahl! Sie werden schlecht bezahlt, müssen oft für den nächsten Vertrag umziehen und haben keine perspektivische Sicherheit. Die wenigsten halten das durch.
Der Historiker Nico Nolden spricht von „Auslese durch Zermürbung“.
Der Begriff trifft es ganz gut. Ich vergleiche es mit dem Spiel Reise nach Jerusalem – nur fast ohne Stühle. Es mag Kosten sparen, dem Großteil der wissenschaftlichen Mitarbeiter*innen ihre Absicherung zu verwehren, doch es schädigt die intellektuelle Freiheit und gefährdet die Diversität. Die jungen Menschen werden in der freien Ausbildung ihrer Interessen und Talente teilweise stark beschnitten, denn sie sind für ihr Fortkommen abhängig vom Urteil ihrer Betreuer. Andererseits haben die Professoren zu viel Einfluss in der langfristigen Bestimmung ihrer Nachfolge. Sie fördern selbstverständlich Menschen, die ihre Ideen weitertragen. Das Ergebnis ist ein homogenes Umfeld, das sich beständig selbst reproduziert. Für geschlechtliche, soziale und ethnische Vielfalt ist in diesen Strukturen wenig Platz.
Sie selbst haben in den USA studiert und unterrichtet. Was für Erfahrungen haben Sie dort als junge Doktorandin gemacht?
In den Vereinigten Staaten war ich nach meinem PhD im Jahr 1999 ein vollkommen gleichberechtigtes Mitglied des Lehrstuhls, obwohl ich zwanzig Jahre jünger war als die meisten meiner Kolleg*innen. So etwas gibt es hier nicht. Wenn ich zu meinen alten Kolleg*innen schaue, sehe ich mehr intellektuelle Autonomie als hier, mehr ethnische Vielfalt unter den Professor*innen, mehr männliche und weibliche Eltern, die gleichberechtigt arbeiten. Die neoliberale Ideologie ist aber auch dort seit Jahren dabei, diese Leistungen zu zerstören.
Sie sind 2014 nach weiteren Stationen in der Türkei und der Schweiz nach Deutschland gekommen, um an der Freien Universität Berlin einen Lehrstuhl für die Geschichte Islamischer Kunst aufzubauen. Was hat Ihre doch sehr privilegierte Situation mit #IchBinHanna zu tun?
Durch die Verbreitung von befristeten W2-Stellen haben die Universitäten das Prekariat auf eine internationale Professorin wie mich ausgeweitet. Ich habe die gleichen Aufgaben wie meine Kollegen, werde aber schlechter bezahlt und erhalte weniger Unterstützung. Meine Stelle endet nach Ablauf meiner Frist ohne Evaluation meiner Leistungen. Der Lehrstuhl für die Kunstgeschichte Islamischer Kulturen, den ich sieben Jahre lang aufgebaut habe, verschwindet.
Sie haben ein preisgekröntes Buch und viele Fachartikel in wichtigen Journalen veröffentlicht, einen Preis für ihre exzellente Lehre erhalten und werden von Ihren Studenten geliebt. Warum ist es trotz solcher Erfolge nicht möglich, eine andere Stelle zu bekommen?
Befristete W2-Positionen sind nicht verlängerbar und dürfen nicht mehr als zweimal besetzt werden. Es existieren wenige Senior-Positionen in meinem Fachbereich in Deutschland. Es ist bizarr, so viel Erfolg zu haben und gleichzeitig in einer Institution zu arbeiten, die kein Interesse daran hat, diesen zu belohnen.
Über 150 Studenten und 70 internationale Kollegen haben sich in offenen Briefen an die Leitung der FU für ihren Erhalt eingesetzt. Wie reagierte die Universität?
Ich bin den Student*innen sehr dankbar für ihre Unterstützung. Ohne sie wäre mein Fall nie publik geworden. Die Universität hat in ihrer bloß Antwort auf „strukturelle Gründe“ verwiesen. Sie geht nicht darauf ein, ob solche Formen der Anstellung ethisch vertretbar und im Sinne der Studierenden sind. In meiner Zeit in Deutschland ist mir eines klar geworden: Die Menschen reden oft von einem System. Aber ein System hat Logik. Was ich hier im Bildungswesen beobachte, ist eine Bürokratie. Man kann nicht mit ihr argumentieren. Man muss sich ihr fügen.
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Diese Bürokratie ist so gebaut, dass sie Frauen, Nicht-Deutsche und Menschen aus sozial schwachen Familien oft besonders benachteiligt oder ausschließt. Kürzlich hat die FU eine Initiative zur Frauenförderung ins Leben gerufen, die 2013 schon einmal in ähnlicher Form gestartet wurde. Sie beruft sich auf das „Berliner Programm zur Förderung der Chancengleichheit für Frauen in Forschung und Lehre (BCP)“ und schmückt sich mit Geschlechtergerechtigkeit. Die Initiative besetzt Frauen allerdings mit befristeten W2-Stellen wie meiner und führt sie so womöglich in eine berufliche Sackgasse.
Viele beklagen in der Diskussion um #IchBinHanna: Da für die Karriere eigentlich nur die eigenen Publikationen zählen, leidet die Lehre. Wie sehen Sie das?
Es geht nicht einmal mehr um Publikationen, das sieht man ja in Fällen wie meinem. Entscheidend ist die Einwerbung von Drittmittelprojekten, denn immer größere Teile der Budgets an deutschen Universitäten finanzieren sich daraus . Es geht schlicht ums Geld und das Prestige: Drittmittelstarke Universitäten gelten als „exzellent“, egal was, wie und zu welchem Preis geforscht wird. Für die Studenten ist es tragisch. Sie werden um ihren Anspruch auf eine ernstzunehmende Bildung gebracht. Man hat keinen Anreiz, sich mehr als nötig mit ihnen zu beschäftigen. Als Professorin ist meine Kursbelastung hier doppelt so hoch wie in den USA. Ebenso werden die Studenten gedrängt, viele Kurse zu belegen. Jeder ist ausgebrannt, deprimiert. Das Überleben wird wichtiger als das Lernen oder intellektuelle Gedeihen.
Die SPD will ein „Gesetz für gute Arbeit in der Wissenschaft“ auf den Weg bringen. Die Dauerbefristung nach der Promotion soll beendet werden und auf ein Jahrzehnt der Forschung ein Jahrzehnt der Lehre folgen, heißt es. Ein guter Vorstoß?
Es braucht einen tiefgreifenden systemischen Wandel, um die Probleme an deutschen Universitäten zu lösen. Man muss grundsätzlich fragen: Was ist der Zweck einer Universität heute? Wie kann man gesellschaftliche Vielfalt gerecht gestalten? Die Menschen, die von dieser Bürokratie bisher oft ausgeschlossen werden, müssen stärker an diesen Diskussionen beteiligt werden.
Giacomo Maihofer