Bildung in Entwicklungsländern: Auf dem Rad zum Schulabschluss
Fahrräder ermöglichen Jugendlichen aus entlegenen Regionen Afrikas und Asiens den Schulbesuch. Ein Bildungsprogramm hilft bei der Anschaffung
Mit dem Fahrrad in die Schule fahren? Wenn in Berlin ein Kind erstmals diesen Wunsch äußert, leisten die Eltern oftmals Widerstand: Zu Fuß oder mit der BVG ist der Schulweg im Zweifelsfall sicherer. In vielen Regionen der Welt geht es allerdings darum, ob dieser Weg überhaupt stattfindet. Für Heranwachsende aus entlegenen ländlichen Regionen Afrikas, Südamerikas oder Asiens ist vor allem die nächste Sekundarschule oft weit weg. Zu weit, um sie zu Fuß zu erreichen.
Mit dem Fahrrad ist man rund viermal so schnell. Wo kein Bus fährt, kann das über Bildungskarrieren entscheiden. Eine Studie, für die zwei amerikanische Ökonomen Daten aus einer bevölkerungsweiten Erhebung im indischen Staat Bihar nutzten, konnte im Jahr 2013 belegen: 14- bis 15-jährige Mädchen aus diesem ausgesprochen armen Bundesstaat, deren Familien zweckgebunden Geld bekamen, um ihren Töchtern ein Fahrrad zu kaufen, machten deutlich häufiger einen Schulabschluss als gleichaltrige Mädchen früherer Jahrgänge und aus dem Nachbarstaat.
Besonders auffällig ist der Gewinn des Programms, das in Bihar seit 2006 läuft, für Jugendliche, die weit von der Schule weg wohnten. Ein nicht uninteressantes Nebenergebnis: Die Kluft zwischen den Geschlechtern verkleinerte sich um 40 Prozent. Offensichtlich sind die Eltern eher bereit, ihre Töchter auf dem Fahrrad zur Schule fahren zu lassen - während sie bei einem langen Fußmarsch um ihre Sicherheit fürchten und ihnen zudem aufgrund häuslicher Verpflichtungen keine derart lange Abwesenheit zubilligen.
Seit dem Jahr 2005 können auch in anderen Ländern der Erde Jugendliche ein eigenes Rad bekommen, um in die Schule zu fahren. Im Rahmen des Bildungsprogramms BEEP (Bicycles for Educational Empowerment) wird es ihnen allerdings zuerst nur geliehen. Nur wer das Rad pfleglich behandelt, zwei Jahre lang nachweislich jeden Tag pünktlich damit zum Unterricht kommt und dadurch auch seine Leistungen verbessert, kann es später als sein Eigentum betrachten. Dieses „Study-to-own“-Konzept wurde von der Hilfsorganisation „World Bicycle Relief“ (WBR) zuerst in Sambia gestartet (https://worldbicyclerelief.org). Inzwischen zeigt die Evaluation, dass es sich sowohl auf die Anwesenheit im Unterricht als auch auf die schulischen Leistungen der Jugendlichen positiv auswirkt.
70 Prozent der Begünstigten sollen Mädchen
„Ein lokales Auswahl-Komitee entscheidet vor Ort, wer die Begünstigten sein sollen“, erläutert Kristina Jasiunaite, die Geschäftsführerin von WBR. Von einer eisernen Regel des Programms müsse man die Komitees oft erst in ausführlichen Gesprächen überzeugen: 70 Prozent der Begünstigten sollen Mädchen sein. Als Argument dafür können die Mitarbeiter der Hilfsorganisation eine ganze Reihe von Studienergebnissen heranziehen, die einerseits belegen, dass Mädchen heute in vielen Entwicklungs- und Schwellenländern deutlich schlechtere Bildungschancen haben, andererseits, dass Bildung von Frauen besonders wichtig ist, wenn langfristig Armut, Kinder- und Müttersterblichkeit bekämpft werden sollen.
Das Bildungsprogramm BEEP nimmt deshalb gleich zwei der 17 Globalen Ziele für eine nachhaltige Entwicklung ins Visier, auf die sich die Vereinten Nationen 2015 geeinigt haben: „Hochwertige Bildung“ und „Gleichberechtigung der Geschlechter“.
Als relativ junge Hilfsorganisation arbeitet WBR bewusst mit den Bildungsministerien vor Ort und mit Partnern zusammen, die die lokalen Verhältnisse schon länger kennen. So entstand zusammen mit der Hilfsorganisation World Vision in Simbabwe ein reines Mädchen-Programm: Für IGATE (Improving Girls’ Access through Transformative Education) wurden Mädchen mit einem Schulweg von bis zu 25 Kilometern ausgewählt.
Insgesamt über 330.000 Fahrräder wurden inzwischen aber auch an Personal aus der Krankenpflege vergeben. Das sind Radler, die in der umgekehrten Richtung fahren, von den größeren Orten in die entlegenen Gemeinden. Etwa um Moskitonetze zu verteilen, die gegen Malaria schützen, oder um junge Mütter zu betreuen, die mit HIV leben.
Inzwischen hat WBW über 1000 Mechaniker ausgebildet, die die Fahrräder vor Ort montieren und reparieren können. Erleichtert wird ihre Arbeit dadurch, dass Ersatzteile bis hin zu Schrauben und Muttern standardisiert sind. Das Modell „Buffalo“ ist kein besonders eleganter oder sportlicher Drahtesel. Das unscheinbar wirkende Lastenfahrrad wiegt 23 Kilo, hat eine Nabe mit Rücktrittsbremse, breite, robuste 26-Zoll-Reifen, keine Gangschaltung und ist ganz aus Stahl. Nicht zuletzt hat es einen Gepäckträger, der 100 Kilo Gewicht aushält.
Viele Bauern nutzen ihre Fahrräder, um ihre kleineren Kinder zur Schule zu fahren
Das ist vor allem für Kleinunternehmer wichtig, die mit ihren Waren zum Markt fahren. Oder für Milchbauern, die die Sammelstellen mit ihrer verderblichen Fracht zeitnah anfahren müssen. Zwischen 2011 und 2014 haben in einer Gemeinde in Sambia in einer Kooperative zusammengeschlossene Milchbauern, die bis zu 17 Kilometer zur Sammelstelle zurücklegen müssen, insgesamt 281 Buffalo-Räder erworben, auf denen sie die schweren Kannen transportieren können. Dabei wurden sie durch Mikrokredite unterstützt. Mit derzeit 134 Euro wolle man den Preis für gängige Import-Fahrräder bewusst nicht unterbieten, sagt Kristina Jasiunaite. Viele Gewerbetreibende hätten allerdings schon die Erfahrung gemacht, dass andere, robust wirkende Modelle unter der Last ihrer Waren zusammenbrachen. Durch die Verkäufe werden die Hilfsprogramme mitfinanziert.
Im März 2016 ist eine Studie zur Palabana-Milchkooperative erschienen: Die Landwirte konnten demnach ihre Transportzeit um fast die Hälfte verkürzen, die Menge der verkauften Milch und ihr Einkommen um fast ein Viertel erhöhen. Außerdem nutzen viele Bauern ihre Fahrräder, um ihre kleineren Kinder zur Schule zu fahren, zu Gesundheitszentren zu gelangen oder an Gemeindetreffen teilzunehmen.
„Ein Fahrrad kann Menschen auch dort mobil machen, wo es keine Infrastruktur gibt“, resümiert Jasiunaite. 200 Jahre ist es jetzt her, dass Karl Freiherr von Drais erstmals auf seiner „Draisine“, dem Vorläufer des Fahrrads, durch Mannheim fuhr. Passend zum runden Geburtstag des praktischen Transportmittels hat WBR unlängst den Bertha-und- Carl-Benz-Preis der Stadt Mannheim bekommen. Mit ihrem Engagement erhöhe die Hilfsorganisation durch Mobilität die Chancen auf Bildung, soziale Teilhabe und letztlich auf Unabhängigkeit, sagte Oberbürgermeister Peter Kurz in der Begründung.
Wenn Susan Anthony (1820-1906) recht hat, eine der Pionierinnen der amerikanischen Frauenrechtsbewegung, dann gilt das besonders für Mädchen und Frauen: „Ich denke, das Fahrrad hat mehr für die Emanzipation der Frauen bewirkt als alles andere auf der Welt.“